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Wiens kurdische Totengräber

Von Hülya Tektas

Politik
Beim ersten Job musste Nurettin Güngör (zweiter von rechts) weinen, als er das Grab schaufelte. Nach 23 Jahren nicht mehr.
© Hülya Tektas

Auf dem Zentralfriedhof schaufeln Männer kurdischer Herkunft seit Jahren die Gräber der hiesigen Stadtbevölkerung.


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Wien. Die im Halbstundentakt läutenden Kirchenglocken erinnern ständig an den Tod, das Gefühl der Vergänglichkeit begleitet die Friedhofbesucher.

Für den 53-jährigen Kurden Nurettin Güngör und seine Kollegen ist der Wiener Zentralfriedhof jedoch in erster Linie ihr Arbeitsplatz, an dem sie acht Stunden täglich, fünf Tage die Woche schaufeln. Große Zweifel, Scham und Scheu haben die kurdischen Totengräber bei der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht. Doch das war bei manchen nicht immer so.

Das erste Grab war ein Schock

Während draußen das Geschäft mit dem Tod weiterläuft, sitzen sie entspannt in der Aufbahrungshalle des Wiener Zentralfriedhofs an einem Tisch zusammen und trinken in Ruhe ihren schwarzen Tee mit Zucker aus kleinen, schmalen Teegläsern. Es ist Zeit für eine kurze Pause für die Totengräber. Nurettin Güngör nimmt einen Schluck Tee aus dem orientalischen Teeglas und erzählt mit einem breiten Lächeln im Gesicht von seinem ersten Arbeitstag. Angst überkam ihn damals. "Man zeigte mir die Grabstelle, die ich schaufen sollte, daraufhin begann ich mit der Arbeit. Als ich jedoch weiter unten Knochen entdeckte, verließ ich das Grab fluchtartig und weinte", erinnert sich Güngör.

Seine Kollegen können sich das Lachen nicht verkneifen, Güngör selbst lacht am lautesten. "In der Türkei wurde früher nur eine Person pro Grabstelle begraben, heute wird es aber vermutlich aus Platzgründen auch dort so gemacht wie hier", erklärt er den Schock, den er bei seinem ersten Arbeitsauftrag erlitt. Das Trauma war so groß, dass er für drei Monate beurlaubt wurde. Nach seiner Rückkehr zu den Totengräbern unterstützte ihn ein mazedonischer Arbeitskollege noch längere Zeit. "Ich schaufelte, und er entfernte die Knochen aus den Gräbern, bis ich mich daran gewöhnte", sagt Güngör dankbar.

Auf der Suche nach einem Broterwerb begann er vor mittlerweile 23 Jahren als einer der ersten kurdischen Totengräber auf dem Zentralfriedhof. Viele Jobmöglichkeiten hatte er nicht: Ende der 1980er als Gastarbeiter gekommen, mit Pflichtschulabschluss und ohne Deutschkenntnisse, musste er sich zwischen einer Fabrik, einer Baustelle und einem Friedhof entscheiden. Die Zusatzprämien pro geschaufeltem Grab zum Gehalt machten den Totengräberjob attraktiver.

Heute haben sieben der rund zwei Dutzend Totengräber des Wiener Zentralfriedhofs kurdische Wurzeln. Dass der Berufsstand des Totengräbers heute von relativ vielen Kurden ausgeübt wird, ist kein Zufall. Wie viele andere Jobs wird auch dieser durch Mundpropaganda den kurdischen Verwandten und Bekannten weiterempfohlen. Die Arbeit beginnt um 7 Uhr in der Früh und endet meist um 15 Uhr. Die Grabstellen der täglich bis zu 25 Begräbnisse werden am Vormittag vorbereitet. Das Ausheben einer Grabstelle dauert je nach Bodenhärte und Wetterbedingungen drei bis vier Stunden.

Das Schaufeln auf demFriedhof hält fit

Heute macht Güngör die Arbeit nichts mehr aus. Der Friedhof ist für ihn und seine Kollegen eine Arbeitsstelle wie jede andere. Sie sind sich einig: Ohne Humor wäre diese Arbeit viel mühsamer. Ein Mann jüngeren Alters erzählt, dass er froh ist, erst kurz nach seiner Heirat den Job gefunden zu haben - "sonst hätte mich ja niemand geheiratet". "Es ist wieder Zeit für die romantische Stimmung mit dem Tod", meint ein anderer, nimmt eine Schaufel in die Hand und macht sich auf den Weg zum nächsten Grab. Die Pausen verlaufen lustig, unterhaltsam und gesellig.

Güngör ist mit 53 Jahren der Älteste in dieser Gruppe. Das Alter sieht man ihm nicht an, die Arbeit mit Hacke und Schaufel hält ihn fit. Er hat schon tausende Gräber ausgehoben, viele Beerdigungen gesehen. Traurig wird er nach so vielen Arbeitsjahren bei Beerdigungen ohne Trauergäste: "Niemand hat es verdient, bei der Reise zur ewigen Ruhe allein zu sein."

Die Totengräber bekommen außer dem Namen keine Informationen über die Leichen, für die sie die Gräber vorbereiten. Diese Anonymität ermöglicht ihnen die Wahrung einer gewissen emotionalen Distanz. Manches lässt jedoch niemanden unberührt. Beim 43-jährigen Mümtaz Bozkurt sind es zum Beispiel die Grabstätten der Kinder und die intensiven Trauerrituale der Christlich-Orthodoxen und Moslems, die ihn rühren.

Bozkurt kam nach der Matura nach Österreich. Damals träumte er von einem Psychologiestudium. Sprachliche Hindernisse und finanzielle Schwierigkeiten zwangen den eloquenten Mann allerdings dazu, als Totengräber zu arbeiten. Dank der kostenlosen Sprachkurse, die der Wiener Zentralfriedhof für seine Angestellten organisiert, spricht er heute Deutsch auf B1-Niveau. Bozkurt betrachtet seine Arbeit aus einer soziologisch-kulturellen Perspektive. Die Gefasstheit vieler Menschen bei Beerdigungen in Österreich erklärt er damit, dass hier die Trauerfeier nicht unmittelbar nach dem Tod stattfindet, sondern erst nach einer gewissen Zeit, in der der Verlust bereits halbwegs verarbeitet wurde.

Die wichtigste Anforderung für den Job als Totengräber ist körperliche Kraft. Denn egal ob es regnet, schneit oder stürmt: Der Betrieb auf dem Friedhof geht weiter. Nichtsdestotrotz schätzen die kurdischen Totengräber die Arbeit auf dem Wiener Zentralfriedhof. Der Boden sei hier weicher, somit sei die Erde leichter zu schaufeln, meinen sie. In ihrem Heimatland würden die aus kleinen kurdischen Dörfern in der Türkei stammenden Totengräber denselben Job nicht machen. Einerseits weil dort der Boden hart und daher die Erde schwieriger zu schaufeln ist, andererseits wegen der Geringschätzung der Arbeit auf einem Friedhof.

In der Heimat muss jeder seine Toten selbst begraben

Die Aufstiegschancen für Totengräber sind gering. Die Aufgabe des 45-jährigen Erhan Gül liegt darin, den Trauerzug zu den Gräbern zu begleiten. Dementsprechend gekleidet muss er sein. Schaufeln muss Gül nicht mehr. Das ist jedoch schon alles, was man erreichen kann. Gül überlegte nicht lange, als er von diesem Job erfuhr, denn - und darin sind sich alle kurdischen Totengräber einig - "es ist ja eine Arbeit wie jede andere".

Sie alle hatten schon vor dem Job auf dem Wiener Zentralfriedhof Tote beerdigt. Denn in den kleinen kurdischen Dörfern muss jeder seine Verwandten und Familienangehörigen selbst begraben, die Dorfeinwohner helfen dabei mit - wohl ein Mitgrund, warum Kurden bei der Ausübung ihres Jobs als Totengräber weniger Hemmungen und Bedenken haben als Menschen aus manchen anderen Kulturkreisen.