In zwölf Bezirken kooperieren die vermeintlichen Erzfeinde SPÖ und FPÖ seit Jahrzehnten.
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Wien. Freundschaftlich. Paul Stadler muss bei dem Wort kurz stocken. Fast so, als dürfte er es als freiheitlicher Bezirksrat in diesem Zusammenhang gar nicht aussprechen. "Wir begegnen uns auf Augenhöhe. Wir respektieren einander und sind seit Jahren auf einer sachlichen Ebene", sagt der 58-Jährige. Dann holt er Luft: "Man kann fast sagen: freundschaftlich." Paul Stadler ist seit 24 Jahren FPÖ-Bezirksrat in Simmering. Die Kollegen, von denen er so respektvoll spricht, sind nicht die eigenen Leute. Es sind Sozialdemokraten.
In Wien gelten die beiden Parteien als Erzfeinde. An keinem anderen Ort ist die Ablehnung gegen die rot-blaue Koalition im Burgenland unter Landeshauptmann Hans Niessl so groß wie bei den Genossen in der Hauptstadt. Mantraartig wiederholen die Lokalgranden seither, dass eine derartige Konstellation in ihrer Stadt ausgeschlossen ist. Das gebietet die Gesinnung. Die Geschichte. Und die Parteibeschlüsse, die jede Zusammenarbeit mit der FPÖ auf allen Ebenen ausschließen. Dabei ist rot-blau in Wien längst Realität. Parteibeschluss hin oder her. Michael Häupl kann noch so oft in den Medien poltern, dass er eher seinen Posten als Bürgermeister räumen würde, bevor er sich mit der FPÖ ins Bett legt. Denn genau genommen liegt er mit ihr längst im Bett.
Kuscheliges Simmeringer Idyll
Auf Bezirksebene wird der vermeintliche Tabubruch seit Jahrzehnten gelebt. Hier haben die Sozialdemokraten gar keine andere Wahl. Denn es gilt die Stadtverfassung. Nicht ein Parteibeschluss. Und die Verfassung besagt: Der Wahlsieger stellt den Bezirksvorsteher und den ersten Stellvertreter. Die zweistärkste Partei stellt den zweiten Stellvertreter.
Bei den Wiener Gemeinderatswahlen 2010 kam die SPÖ auf 44,34 Prozent der Stimmen, die FPÖ auf 25,77 Prozent - und war damit vor ÖVP und Grünen die zweitstärkste Partei in der Stadt. Seither stellt sie in zwölf Bezirken den zweiten Bezirksvorsteherstellvertreter. Von Leopoldstadt über Ottakring bis nach Floridsdorf. Hinter jedem roten Bezirksvorsteher steht in der zweiten Reihe ein blauer Juniorpartner. Doch ob er tatsächlich als Partner gesehen wird, hängt von der Gnade des jeweiligen Bezirkskaisers ab. Ob er die blauen Bezirksräte auf einer Veranstaltung grüßt - oder sie ignoriert. Ob er sie informiert über die aktuellen Entwicklungen eines Bauprojekts - oder ihnen erst den fertigen Bau präsentiert. Und ob er ihnen ein hübsches Büro im selben Gang anbietet - oder sie in einer Ecke auf dem Dachboden des Amtshauses verbannt, weit weg aus den Augen und aus dem Sinn jedes potenziellen Wählers. Der Bezirksvorsteher bestimmt das Klima, ob man sich unter freiem Himmel gemütlich auf einer Parkbank zum Plausch treffen kann oder ob man es heimlich tut, weil jede Kontaktaufnahme mit den freiheitlichen Parias von den anderen Genossen als verräterischer Fraternisierungsversuch interpretiert werden könnte.
Simmering ist in puncto roter Gnade ein Vorzeigebezirk. Im Südosten Wiens herrscht ein sehr gnädiges Regime. Der 11. Bezirk ist das kleine Burgenland am Stadtrand. Auch hier sind die Freiheitlichen anders, wird betont. Auch hier könne man sie mit dem bösen Rest der FPÖ nicht vergleichen. 94.000 Menschen leben unter der rot-blauen Bezirksregentschaft. Und das seit Jahrzehnten.
Seit 19 Jahren ist Paul Stadler zweiter Bezirksvorsteherstellvertreter im 11. Bezirk. Hier hat die FPÖ 2010 ihr stärkstes Wahlergebnis in ganz Wien erreicht. 35,50 Prozent aller Simmeringer gaben den Freiheitlichen ihre Stimme. Längst ist der einst rote Arbeiterbezirk durchzogen von blauen Enklaven. Seit 24 Jahren stellt die FPÖ den zweiten Stellvertreter der Bezirksvorstehung. Es ist eine friedliche Kohabitation. Man grüßt sich, trinkt Kaffee miteinander und plaudert ein bisschen. Vor ein paar Wochen hatten beide Parteien Infostände vor dem Einkaufszentrum auf der Simmeringer Hauptstraße. Um sich nicht in die Quere zu kommen beim Wahlwerben, ist man extra ein paar Meter für den politischen Konkurrenten nach rechts bzw. nach links gerutscht, so zuvorkommend gehen die Kollegen miteinander um.
"Mit einigen roten Bezirksräten bin ich auch auf Urlaub gefahren", erzählt Stadler. Eine Woche Segeln in Kroatien. Politisiert wurde dabei nicht. Überhaupt seien ideologische Grabenkämpfe im Bezirk kein Thema. "Die wären hier auch fehl am Platz. Wir haben alle unsere Ideologien, aber in dem Bezirk geht es um den Bezirk. Das ist auch den Sozialdemokraten klar, deswegen arbeiten wir auf dieser Ebene sehr gut zusammen", erklärt Stadler und verschränkt die Arme vor seinem imposanten Oberkörper.
Er sitzt im ersten Stock des Bezirksamts am Enkplatz. Zwei Zimmer stehen ihm hier zur Verfügung. Ein Büro und ein Besprechungszimmer. Mehr braucht er für seine Arbeit nicht. "Wir machen im Bezirk nicht die große Weltpolitik", sagt er. Im Bezirk geht es um Realpolitik. Die großen ideologischen Kämpfe werden im Gemeinderat und im Parlament ausgefochten. Im Bezirk kümmert man sich um kaputte Haustore und Toiletten. Da lässt sich leicht ein gemeinsamer Nenner finden. Egal mit wem.
Über Sozialdemokraten, die reden und leben lassen
Anfangs hatte der Unternehmer, der mit Flüssiggasen handelt, seine Schwierigkeiten mit den roten Kollegen. Das war in den 90er Jahren. Damals führte Stadler das Familiencafé in der Grillgasse. Als er für die FPÖ das Amt des Stellvertreters antrat, blieben plötzlich viele Gäste aus. Der rote Pensionistenklub hätte seinen Mitgliedern mit dem Ausschluss gedroht, wenn sie beim freiheitlichen Bezirksrat weiterhin ihren Kaffee trinken würden. Stadler kontaktierte den SPÖ-Bezirksrat und einstigen Landtagspräsidenten Johann Hatzl und das Problem war gelöst. Hatzl ist 2011 verstorben. Ein besonderer Mann mit Handschlagqualität soll er gewesen sein, meint Stadler. "Er hatte seine Leute in der Hand und ich meine", sagt Stadler, "das war ein richtiger Sozialdemokrat, der auch andere Parteien reden und leben ließ."
Gott sei Dank keine Radikalen im Bezirk
Seit November 2014 ist Hatzls Witwe, Eva Maria Hatzl, Bezirksvorsteherin von Simmering. Sie sitzt im selben Haus, im selben Stock, im selben Gang wie Paul Stadler. Nur ist sie auf der anderen Seite des Flurs. Dort kümmern sich mehrere Assistenten um ihren Terminkalender. Voll ist der in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten. Am 11. Oktober muss sie ihren Platz verteidigen. Und es wird nicht einfach sein. Das weiß Hatzl. Hans Niessls Entscheidung im Burgenland bereitet ihr Kopfzerbrechen. Was heißt das für sie im Wahlkampf? Wie erklärt sie sein politisches Manöver dem Wähler? Die 62-Jährige schüttelt den Kopf. Sie will sich nicht einmischen in die Belange des burgenländischen Landeshauptmanns. Irgendwie scheint sie ihn auch verstehen zu können. Immerhin habe er gesagt, dass die FPÖ im Burgenland nicht so radikal sei wie jene im Bund oder in Wien.
Hatzl bedient eine ganz ähnliche Rhetorik. "Im Bezirk haben wir Gott sei Dank eigentlich keine Radikalen", sagt sie. Eigentlich. Wer genauer hinsieht, wird den einen oder anderen "radikalen" Freiheitlichen in Simmering schon ausmachen können, beispielsweise den Nationalratsabgeordneten Harald Stefan, den Obmann der Simmeringer FPÖ. Er ist bekennendes Mitglied der schlagenden Burschenschaft Olympia, einer Vereinigung, die vom Österreichischen Dokumentationsarchiv als rechtsextrem eingestuft wird. "Er hält sich aus dem Bezirk eher raus", meint Hatzl. Eine Randfigur also. Eine, über die man nicht zu viele Worte verlieren mag. Im Bezirk hat ihr bäriger Kollege aus dem Zimmer nebenan ohnehin das Ruder bei den Freiheitlichen in der Hand. "Wir können miteinander reden. Wir haben Beschlüsse, die wir gemeinsam machen, und die halten auch", sagt Hatzl, "Wenn wir vorher etwas ausmachen, dann steht er auch dazu. Das gefällt mir. Das ist in Ordnung."
Von Simmerings idyllischer rot-blauer Symbiose können Freiheitliche in anderen Bezirken nur träumen. So auch Christian Hein in Ottakring. Seit 28 Jahren hält der Kaffeehausbesitzer das blaue Fähnchen im 16. Bezirk hoch. Er erinnert sich noch an die Zeiten, als er mit roten Bezirksräten beim Heurigen nach der Angelobung als Bezirksrat einen Spritzer getrunken hat oder mit ihnen nach einer Sitzung gemeinsam ein Fußballspiel besucht hat. Es sind sehr blasse Erinnerungen. Wenn er jungen Kollegen davon erzählt, schütteln sie ungläubig den Kopf. Es klingt nach einer Märchengeschichte eines alten und senilen Mannes.
Heute geht kein Genosse mehr mit Christian Hein etwas trinken. Oder sieht sich mit ihm ein Fußballspiel im Stadion an. Heute wird er noch nicht einmal zu einer Besprechung, einer Veranstaltung oder einer Versammlung eingeladen. Über die Bezirkszeitung und Bürger muss er sich die Informationen zusammenklauben. Wie der dicke Bub auf dem Schulhof, der von den coolen Mitschülern gemieden wird, wird er behandelt. Und wenn er dann doch einmal auf einer Party auftaucht, zu die er offiziell nicht eingeladen war, erntet er nur entnervte Blicke. "Jetzt hat er es doch gemerkt, jetzt ist er da", interpretiert er sie.
Der Vergleich mit dem gemobbten Schulaußenseiter ist für ihn nicht so weit hergeholt: "Wir dürfen uns ins Eckerl stellen und warten, bis die Stunde vorbei ist", fasst er die Handhabe im Bezirk zusammen. Seit die SPÖ mit den Grünen koaliert, gibt es für ihn keine Chance mehr, im Bezirk an die Genossen heranzukommen. Alles finde hinter verschlossenen Türen statt. Nur noch gelegentlich sucht ein Sozialdemokrat das Gespräch mit ihm. Doch es sind meistens pensionierte Bezirksräte, oder jene, die nicht mehr vorhaben zu kandidieren. Hein weiß: An den dicken Buben wagen sich nur jene Genossen, die mit ihrem politischen Leben schon abgeschlossen haben.
Mit Sonnenscheinanträgen gegen den roten Chef
Auch Werner Hammer kennt die Rolle des Außenseiters. Der Berufsoffizier ist seit 20 Jahren in der FPÖ-Donaustadt aktiv. Seit fünf Jahren ist er stellvertretender Bezirksvorsteher. Noch nie hat ihn der Bezirkschef als Vertreter zu einem Termin geschickt. Noch nie hat er ihn zu einem Kaffee in seinem Büro eingeladen. Noch nie wurde er in seinem Büro besucht. Dann könnte er ihm zeigen, unter welchen Umständen er im Amtshaus arbeiten muss: ein Tisch, ein Kasten, ein Sessel, ein Telefon. Internet würde ihm nicht zustehen. Er musste sich selbst einen Computer und einen Internetstick besorgen, während die roten Kollegen in den anderen Räumen von der Stadt Wien ausgestattet werden. Das glaubt er jedenfalls.
"Die SPÖ Donaustadt lebt Ausgrenzung zu 100 Prozent. Hier wird Häupls Wille eins zu eins umgesetzt", sagt Hammer. Mit dem im Juli an einem Herzinfarkt verstorbenen Bezirksvorsteher Norbert Scheed habe es noch ein wenig Zusammenarbeit gegeben. Im August 2014 hat Ernst Nevrivy das Kommando der SPÖ in der Donaustadt übernommen. Seither ist auch das bisschen Zusammenarbeit endgültig Geschichte. Nevrivy macht keinen Hehl aus seiner Verachtung gegenüber den blauen Bezirksräten. "Ich sehe die freiheitlichen Bezirksräte bei den Bezirksvertretungssitzungen und das reicht mir vollkommen", sagt er. Er sucht den Kontakt nicht, er braucht ihn auch nicht, betont er.
Schließlich hat die SPÖ im Bezirk die Mehrheit, 48,68 Prozent der Wähler haben der SPÖ 2010 ihre Stimme gegeben, 31,41 Prozent der FPÖ.
Und Internet stehe den Stellvertretern nicht zu, ebenso wenig seinem, das ist in der Satzung für den Stellvertreter so normiert, lässt er wissen.
In der Donaustadt hat die FPÖ ihren Weg gefunden, um sich Gehör zu verschaffen. Wer im Abseits steht, muss sich anderer Waffen bedienen, auch wenn diese noch so absurd sind. Mit "Sonnenscheinanträgen" versuchen die Freiheitlichen seit 15 Jahren, Sondersitzungen zu erzwingen. Sie gelten als Hintertür, wenn ordentliche Anträge vom Sitzungsvorsitzenden, dem Vorsteher, als irrelevant abgeschmettert werden.
Mit dem Sonnenscheinantrag hat sich bisher jede Sondersitzung durchboxen lassen. Er besagt: "Die Bezirksvertretung spricht sich dafür aus, dass in Donaustadt täglich die Sonne scheint. Wunsch der Donaustädter Sonnenanbeter." Dieser Antrag lasse sich laut Hammer nicht abschmettern - bis vor vergangener Woche. Nun hat die FPÖ eine ähnliche Forderung aus dem Köcher gezaubert, um ihre Sondersitzungen durchzubringen: "Die Donaustadt möge der lebenswerteste Bezirk werden."
Kernwähler längst an die FPÖ verloren
In Simmering muss man sich nicht derartiger Tricks bedienen. Wenn es ein Problem gibt, lädt die Bezirksvorsteherin Paul Stadler ins Büro. "Dann reden wir uns das aus", sagt er. Vielleicht ist er in wenigen Monaten derjenige, der sie zum Gespräch einlädt.
2010 hat die SPÖ in Simmering 11,82 Prozent verloren, während die FPÖ 16,68 Prozent dazugewonnen hat. Immer wieder ist die Rede davon, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die FPÖ Wiens ersten blauen Bezirksvorsteher stellt. Simmering ist dafür das aussichtsreichste Pflaster.
Selbst in der SPÖ glaubt man an ein derartiges Szenario. So hat die ehemalige Bezirksvorsteherin Renate Angerer 2009 in einem Interview mit der Tageszeitung "Der Standard" gesagt, dass der Bezirk in Zukunft durchaus einen blauen Bezirksvorsteher bekommen könnte. Längst habe die SPÖ ihre Kernwähler, die Arbeiter, an die Freiheitlichen verloren. Für ein Gespräch mit der "Wiener Zeitung" stand Angerer nicht zur Verfügung.
Stadler erinnert sich noch gut an die Worte der langjährigen Bezirksvorsteherin. Und sie freuen ihn sichtlich. Für ihn gab es immer nur den Bezirk. Zu Höherem sah er sich nie berufen. Zwei Szenarien prognostiziert er für Wien nach der Wahl am 11. Oktober. "Entweder es tut sich gar nichts oder es rumort ordentlich", sagt Stadler. Er lächelt. Er schaut aus seinem Büro auf den Gang und sagt: "Wenn es rumort, dann ziehe ich um."