Nimmt man die Suchabfragen im Internet als Basis, liegt Sebastian Kurz klar vorne.
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Unter den vielen Kommentaren, die jetzt über die kommenden Wahlen in Österreich verfasst werden, fehlt es an Reflexionen über tiefer liegende, gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die das Wahlresultat Ende September beeinflussen werden. Für die quantitativ-analytische Politikwissenschaft gibt es hier neben ihren vielen anderen möglichen Instrumenten auch die Untersuchung der Trends im Internet. Diese Art der Betrachtung wird heute unter dem Namen "Webometrics" zusammengefasst. Eine solche einfache Trendanalyse lässt sich auch für die wichtigsten aktuellen und miteinander konkurrierenden politischen Akteure in Österreich durchführen.
Zur Methode: "Google Scholar" verzeichnet heute schon mehr als 13.000 "Webometrics"-Anwendungen, um Aussagen über Meinungen und Trends auf Basis von Abrufstatistiken aus dem Internet zu treffen. Ist eine derartige Untersuchung wirklich berechtigt? Nun, in Österreich liegt die Internet-Dichte bereits bei 87,8 Prozent (im Jahr 2000 waren es nur 26 Prozent), und nichts liegt näher, als solche Trendanalysen auch auf politische Prozesse anzuwenden.
Wikipedia reflektiert die heutige Diversität
Eine besonders einfache, "handgestrickte" und dennoch vielsagende Analysemöglichkeit beruht auf den Abrufstatistiken von Wikipedia. Die am 15. Jänner 2001 gegründete freie Online-Enzyklopädie ist mittlerweile zu einem gewaltigen internationalen Faktor geworden und beinhaltet heute auch Artikel zu praktisch allen wichtigen Entscheidungsträgern der österreichischen Politik. Wikipedia lag im September 2018 laut eigenen Angaben auf Platz fünf der am häufigsten besuchten Websites der Welt. Ihre 49,3 Millionen Artikel in annähernd 300 Sprachen sind deshalb auch eine Fundgrube für die Politikanalyse in Österreich, gerade auch vor der kommenden Nationalratswahl.
Mit dem in Wikipedia verfügbaren und sehr einfach zu bedienenden Abrufstatistik-Programm lassen sich sehr anschaulich gesellschaftliche Trends in der Welt zusammenfassen. Auf den deutschsprachigen Seiten befinden sich die Links zu den Abrufstatistiken jeweils am unteren Ende der Artikel. Was viele vielleicht als einen methodischen Fehler der vorliegenden Analyse betrachten, ist in einer globalisierten Welt allerdings auch ihr Vorteil: Das System gestattet es nicht, festzustellen, wo genau die Aufrufe der verschiedenen Sprachversionen von Wikipedia-Artikeln getätigt wurden, ob in Gloggnitz in Niederösterreich oder im fernen Norilsk in Sibirien. Das wiederum lässt das globale Echo auf die Tätigkeit einer politischen Persönlichkeit, je nach Sprache des Artikels, erkennen, und die Methodik umfasst damit natürlich auch die auch an den Wahlurnen immer wichtiger werdenden Auslandsösterreicherinnen und Auslandsösterreicher.
Wollen wir die Ergebnisse für Österreich anwenden, müssen wir die heroische Annahme treffen, dass sich die Aufmerksamkeiten für einen Wikipedia-Artikel in Österreich in etwa so verteilen wie auf der gesamten Welt. Das PEW-Research Center in Washington schätzt, dass weltweit die englischsprachige Version der Enzyklopädie 97,2 Milliarden Anfragen erhält, gefolgt von Japanisch (15 Milliarden), Spanisch (14,3), Deutsch (13 Milliarden), Russisch (12), Französisch (9,2), Italienisch (6,4), Chinesisch (4,9), Portugiesisch (4,1) und Polnisch (3,5).
Starker Trend zumehr Ungleichheit
Die Ergebnisse bestätigen jedenfalls mit aller Wucht erneut die These, wonach der "Faktor Kurz" für längere Zeit die Politik in Österreich dominieren werde. Ob’s einem passt oder nicht, wird man sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen haben. Die wirtschaftliche Ungleichheitsperspektive betont nach den US-Politologen Ronald Inglehart und Pippa Norris die Konsequenzen für das Wahlverhalten, die sich aus dem starken Trend zu mehr Einkommens- und Wohlstandsungleichheit im Westen und damit auch in Österreich ergeben.
Beeinflusste einst der "Genosse Trend" das Wahlerhalten der Österreicher unter Bruno Kreisky, 1970 bis 1983 zugunsten der Sozialdemokratie, sieht die Welt heute ganz anders aus. Die globalen Waren-, Arbeitskräfte-, Dienstleistungs- und Kapitalströme, insbesondere in der EU, sind der eine Mühlstein, der die Sozialdemokratie langsam zermalmt. Der Zustrom von Migranten und Flüchtlingen, die Erosion der organisierten Arbeiterschaft, die neoliberale Sparpolitik seit Mitte der 80er Jahre waren die Brandbeschleuniger der populistischen Wende.
Inglehart und Norris nennen aber auch den zweiten Mühlstein: den gegenläufigen Trend zu mehr grüner Politik, der ebenso die Sozialdemokratie in Ländern wie Deutschland auf der Linken entbehrlich zu machen scheint. Er beruht auf dem hohen Maß an existenzieller Sicherheit, das die Menschen in den entwickelten westlichen Gesellschaften in den Nachkriegsjahrzehnten erlebten, die nun eine Generationen mit postmaterialistischen Werten wie Kosmopolitismus und Multikulturalismus hervorgebracht hat, was eine wachsende Unterstützung für Parteien wie die Grünen und andere schafft, die sich für Umweltschutz, Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlechter einsetzen.
Zwischen Regenbogenparaden und rechten Wahlsiegen
Dieser Kulturwandel wird in der Sicht von Inglehart und Norris als unaufhaltsame kulturelle Rolltreppe dargestellt, die die postindustrielle Gesellschaften stetig in eine progressivere Richtung bewegt, da die Möglichkeiten für eine Hochschulausbildung auf immer mehr Bevölkerungsgruppen ausgedehnt wurden und die jüngeren Kohorten nach und nach ihre Eltern abgelöst haben. Es ist für Inglehart und Norris jedoch von Anfang an klar, dass die Reaktionen auf diese Entwicklungen eine Gegenreaktion auslösen, insbesondere unter den älteren Generationen, unter einheimischen Männern und weniger gebildeten Sektoren, die einen Niedergang spüren und die steigende Flut progressiver Werte aktiv ablehnen. Und so leben wir im "clash of civilizations" der Regenbogenparaden und rechten Wahlsiege in Europa. Und wie das Beispiel Dänemark zeigt, sind offensichtlich sozialdemokratische Parteien nur dort erfolgreich, wo sie Migrationspessimisten wurden.
In dieser Epoche der globalen Entwicklung trifft offensichtlich die politische Botschaft von ÖVP-Chef Sebastian Kurz einen Lebensnerv. Sein Erfolg kommt also nicht aus heiterem Himmel. Auf Wikipedia hatte er jedenfalls in den vergangenen Wochen unter den Parteispitzen fast 50 Prozent der Seitenaufrufe zu verzeichnen (siehe Grafik). Der Ex-Kanzler und sein Team schaffen es, alle Monate medial eine wichtigere Sache "einzufädeln" und alle zwei Monate die "Luftraumhoheit" über die Debatte zu gewinnen.
Hat SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner die politische Mobilisierungsfähigkeit, die SPÖ aus ihrem Tief herauszuführen und vor allem auch eine kanzlerfähige Mehrheit zu finden? Für eine SPÖ, von der wohlmeinende Insider ironisch bemerken, die Parteieliten seien noch nicht beunruhigt, weil die Wahlergebnisse eh noch im zweistelligen Bereich liegen. Ein punktgenauer Vergleich der deutschsprachigen Wikipedia-Abrufe für die Amtszeit Rendi-Wagners als Ministerin vom 1. April 2017 bis 1. Dezember 2017 (also ohne Amtsantritts- und Amtsabtrittseffekte) zeigt, dass ihr schon als vergleichbarer Fachministerin in der Regierung von Kanzler Christian Kern kein wirklicher vergleichbarer politischer Kommunikationserfolg beschieden war. Vom Ministervergleich sind der damalige Finanzminister und der damaligen Vizekanzler bewusst ausgeschlossen, weil sie kraft ihrer koordinierenden Funktion in der Regierung einen gewissen Startvorteil der Medienpräsenz gehabt hätten.
Kann wenigstens der Sonnenstrahl vergangener Glorie Licht in die SPÖ-Parteizentrale in der Löwelstraße bringen? Und verblasst - wie seine Gegner hoffen, der Stern von Kurz, da er nun nicht mehr Kanzler ist? Nun, wenn der Autor dieser Zeilen eine abschließende und riskante Prognose wagt, ist es vor allem die: Kurz wird die Wahl gewinnen. Und er wird sich aussuchen können, mit wem er koaliert. Türkis wird weiter Österreich regieren - nicht nur auf Wikipedia.
Arno Tausch ist Dozent der Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Er war von 1992 bis 2016 Analytiker und Migrationsattaché des Sozialministeriums.