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Im Erbgut finden Forscher auch Spuren von sehr alten Menschenlinien.
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Berlin. Bei der Partnerwahl kannten unsere frühen Vorfahren offenbar wenig Tabus. Als Kay Prüfer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig und sein Team das Erbgut einer Neandertaler-Frau untersuchten, deren Zehenknochen im zentralasiatischen Altai-Gebirge gefunden worden war, fanden sie Hinweise, dass so mancher Frühmensch vielleicht sogar zwangsläufig eher wenig Zurückhaltung bei der Wahl ihrer Geschlechtspartner zeigte. Im Fachmagazin "Nature" schildern die Forscher, dass nicht nur nahe Verwandte wie Halbgeschwister gemeinsame Kinder zeugten, sondern auch Nachkommen zur Welt kamen, deren Elternteile verschiedenen Menschenlinien angehörten.
Exakte Analyse möglich
Rund 50.000 Jahre war das 2,6 Zentimeter lange Knöchelchen einer vierten oder fünften Zehe in der Denisova-Höhle im Süden Sibiriens gelegen, als Anatoli Derevianko, Michael Shunikov und ihre Kollegen von der Russischen Akademie der Wissenschaften es 2010 dort fanden. Aus dem Erbgut eines in derselben Höhle entdeckten Fingerknochens schlossen die EVA-Forscher Johannes Krause und Svante Pääbo sodann im gleichen Jahr, dass dort eine bisher unbekannte Linie der Frühmenschen gelebt hatte. Diese "Denisovaner" waren näher mit den Neandertalern als mit den modernen Menschen verwandt.
"Wir vermuteten zunächst, der Zehenknochen könnte ebenfalls von einem Denisovaner sein", erinnert sich Kay Prüfer. Das aus einigen Milligramm Knochenmehl gewonnene Erbgut brachte jedoch eine Überraschung: "Die Frau gehörte eindeutig zu den Neandertalern", erklärt der Forscher.
Bei der Erbgutanalyse greifen die Max-Planck-Wissenschafter auf eine breite Palette ausgefeilter Techniken zurück, die sie laufend weiter entwickeln. Auch eine Portion Glück ist dabei: "Das Erbgut in den Knochen aus der Denisova-Höhle ist fantastisch gut erhalten", so Prüfer. Daher konnten sie jeden Baustein der 50.000 Jahre alten DNA rund 50 Mal überprüfen - besser geht es selbst beim heutigen Menschen nicht. Diese Genauigkeit erlaubte faszinierende Blicke in die komplizierte Geschichte unserer Vorfahren, der Frühmenschen.
Anhand fossiler Knochen nehmen Forscher an, dass sich vor zwei Millionen Jahren der Frühmensch Homo erectus in Afrika entwickelte. In mehreren Wellen wanderte er Richtung Asien und Europa aus, Neandertaler und Denisovaner entstanden aus einer späteren Migration. In Afrika entwickelte sich dann vor rund 200.000 Jahren der moderne Mensch, der später nach Asien und Europa kam.
Die genau analysierten Zehenknochen und andere Untersuchungen werfen nun aber ein Schlaglicht auf die Entwicklung der drei Gruppen. Demnach gehen Neandertaler und Denisovaner auf der einen Seite und die in Afrika zurückgebliebenen Vorfahren des modernen Menschen auf der anderen Seite seit rund 550.000 bis 765.000 Jahren eigene Wege. Denisovaner und Neandertaler dagegen trennten sich erst vor 381.000 bis 473.000 Jahren.
Eine rigorose Trennung gab es allerdings nicht. 1,5 bis 2,1 Prozent des Erbguts heute außerhalb Afrikas lebender moderner Menschen sind typisch für Neandertaler. In der DNA der Menschen auf dem asiatischen Festland und der amerikanischen Ureinwohner finden sich 0,2 Prozent Erbgut der Denisovaner. Diese wiederum hatten 0,5 Prozent Neandertaler-Erbgut in ihren Zellen. Solche Zahlen führen zu einer Schlussfolgerung: Frauen und Männer aus den unterschiedlichen Gruppen hatten gemeinsame Kinder, die ihr Erbgut in den jeweiligen Linien der Denisovaner, Neandertaler und modernen Menschen weitergaben.
Einen Hintergrund für diese gemischten Beziehungen liefern nun die neuen Ergebnisse aus dem Erbgut des Neandertaler-Knochens aus der Denisova-Höhle. Wie sich zeigt, waren die Eltern der Neandertaler-Frau nahe verwandt - vielleicht Onkel und Nichte, Tante und Neffe, oder Halbgeschwister mit der gleichen Mutter und verschiedenen Vätern. Vermutlich waren solche Beziehungen damals nicht selten, schließlich gab es auf der Erde nur wenige Denisovaner und Neandertaler, wie das Erbgut zeigt. Was die Partnerwahl betrifft, sind die Möglichkeiten in solchen Situationen nicht allzu groß. Traf eine der isolierten Neandertaler-Gruppen auf einen Clan moderner Menschen oder eine Denisovaner-Sippschaft, die ähnlich abgeschieden lebte, war das Interesse am jeweils anderen Geschlecht auch zwischen den Frühmenschenlinien offenbar groß.
Spur zur Moderne
Bei diesen gemischten Beziehungen spielte auch noch eine vierte Gruppe eine Rolle, deren Erbgut die Forscher noch nicht kennen. "2,7 bis 5,8 Prozent der DNA der Denisovaner stammt von einer sehr alten Frühmenschengruppe", staunt Prüfer. Diese aber geht seit etwa 900.000 bis vier Millionen Jahren eigene Wege. Ob es sich dabei um den Homo erectus handelt, ist derzeit aber nur eine Spekulation.
Die Forscher haben mithilfe des Neandertaler-Erbgutes auch eine heiße Spur zum modernen Menschen gefunden. Rund 30.000 Bausteine finden sich nur in unserer DNA, nicht aber bei den Denisovanern oder den Neandertalern. "Diese Unterschiede betreffen 87 Proteine", fasst Prüfer zusammen. Vielleicht stecken in ihnen ja die Unterschiede, mit denen wir die heutige Zivilisation inklusive Internet und raffinierten Erbgut-Analysen aufgebaut haben? Im Leipziger Max-Planck-Institut läuft die Forschung auf Hochtouren weiter.