Warum soll man in Wien künftig zwar am Graben, nicht aber im Brunnenmarkt-Viertel am Sonntag einkaufen dürfen?
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Genau ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Kommunismus in Europa bahnt sich eine neue Wende von welthistorischer Dimension an. Die Wiener Wirtschaftskammer, bis vor kurzem ein verlässliches Bollwerk des Etatismus und der Planwirtschaft im heroischen Ringen um die Aufrechterhaltung des sonntäglichen Zusperr-Zwanges, plädiert nun für eine zumindest teilweise Aufweichung des bisher als gottgegeben verstandenen Ladenschuss-Gesetzes.
Damit könnte man irgendwann in Wien, so wie in fast jeder anderen Metropole auch, am Sonntag nicht nur Mozartkugeln, Plastikkitsch und andere Produkte des täglichen Bedarfs einkaufen, sondern auch so exaltierte Dinge wie Eier, Butter oder Nudeln, ohne sich dafür eigens in einen Bahnhof begeben zu müssen.
Das heißt freilich nicht, dass es künftig in ganz Wien Kaufleuten und Kunden überlassen bleiben soll, wann sie miteinander Geschäfte machen wollen und wann nicht. Wohl anarchische Verhältnisse zu verhindern, schlägt die Wirtschaftskammer stattdessen die Festlegung einzelner Territorien vor, in denen künftig die Sonntagsöffnung gestattet werden soll, während in allen anderen Stadtgebieten weiterhin das althergebrachte Zusperr-Regime zu gelten hat. Nicht das menschenverachtend neoliberale Prinzip von Angebot und Nachfrage, wie man das bei einer Unternehmer-Lobby vermuten würde, sondern die Weitsicht der Bürokratie soll darüber entscheiden, wo auch künftig die Rollbalken unten bleiben müssen.
Es ist dies vermutlich eine weise Maßnahme, mit deren Hilfe die einheimische Bevölkerung vor den zahllosen Gefahren sonntäglichen Einkaufens beschützt werden soll. Denn liberalisiert soll der Ladenschluss dort werden, wo zwar Touristen umherstreifen, aber kaum Wiener: in der Innenstadt, rund um das Schloss Schönbrunn und vielleicht auch die untere Mariahilfer Straße. Möglicherweise steckt aber auch eine sozialpolitische Überlegung dahinter: Schließlich bedürfen sozial schwächere Bewohner vorstädtischer Plattenbauten eher des Schutzes vor ihrer eigenen Konsumwut als wohlhabende MaHü-Bobos oder Kohlmarkt-Russen. Naheliegend wäre, sonntags künftig sicherheitshalber jene U-Bahn-Linien stillzulegen, die die künftigen Shopping-Distrikte mit der Vorstadt verbinden, um diese sozialpolitische Maßnahme möglichst effektiv zu gestalten.
Aber auch unter dem Gesichtspunkt des Arbeitnehmerschutzes haben die sich anbahnenden Liberalisierungen des Ladenschlussgesetzes eine historische Dimension. Schon bisher galt ja die überzeugende Logik, dass Billa-Angestellten am Bahnhof Praterstern Sonntagsarbeit durchaus zumutbar ist, den Bediensteten der Filiale Singerstraße jedoch nicht. War sie bisher also in der Nähe von Eisenbahnschienen oder Flugzeugstartbahnen in Ordnung, wird diese arbeitsrechtliche Errungenschaft nun durch ein überzeugendes geografisches Kriterium ergänzt: Unmenschlich und daher untersagt ist Sonntagsarbeit etwa rund um den Naschmarkt, während sie vermutlich auf der einen Steinwurf entfernten Kärntner Straße gesetzeskonform wird.
Aber vielleicht steckt dahinter ja ein innovatives touristisches Projekt: die Umwandlung der Stadt Wien in ein Museum der Planwirtschaft.