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Willkommenskultur war einmal

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Die überschwängliche Solidarität der Türken mit den syrischen Flüchtlinge ist einer fatalistischen Duldung gewichen.


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Istanbul. Im Januar letzten Jahres rief ein Video in der Türkei eine Welle von Mitgefühl und Empörung hervor. Es zeigte einen syrischen Flüchtlingsjungen, der blutend auf den Treppen eines Burger-King-Restaurants in Istanbul saß und weinte. Die Geschichte hinter dem Bild klang wie aus einem Roman von Charles Dickens: Der elfjährige Halil hatte Pommes Frites gegessen, die ein Gast übrig gelassen hatte. Daraufhin schlug ihn der Manager des Lokals blutig. Als Reporter den Jungen befragten, stellte sich heraus, dass seine Familie zwei Jahre zuvor vor den Bomben des Assad-Regimes aus der syrischen Großstadt Aleppo geflohen war. Halil sagte, er bettle und verkaufe Taschentücher in den Straßen Istanbuls für seine Familie, um zu überleben. "Ich war den ganzen Tag so hungrig", sagte er mit zitternder Stimme.

Der Vorfall warf ein Schlaglicht auf die Lage vieler syrischer Flüchtlinge in der Türkei. Dreieinhalb Jahre nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs entstand damals zum ersten Mal überhaupt so etwas wie eine öffentliche Debatte über den Umgang mit den neuen Mitbürgern, die zu Millionen ins Land geströmt waren. Vor dem Konflikt im Nachbarland gab es im Westen der Türkei praktisch keine Bettler, inzwischen waren sie überall: Syrer, die verschämt am Rand der Einkaufsstraßen hockten und die Hände um Almosen austreckten.

Anfangs wurden die Flüchtlinge mit offenen Armen aufgenommen. Tausende Türken spendeten Kleidung, Möbel und Geld, Hilfsorganisationen organisierten Lebensmittel und Wohnraum. Inzwischen ist die überschwängliche Solidarität einer fatalistischen Duldung gewichen. Die Bettler auf den Straßen werden zwar fast nie angepöbelt, viele Passanten geben ein wenig Geld. Aber es ist spürbar, wie schwer das Land und die Menschen an der Last tragen.

Laut der bisher einzigen Untersuchung, die der Migrationsforschers Murat Erdogan aus Ankara 2015 Jahr vorstellte, empfinden mehr als die Hälfte der Türken syrische Nachbarn als störend und befürchten, dass sie ihnen die Arbeitsplätze wegnähmen; 30 Prozent plädierten sogar dafür, alle Flüchtlinge wieder zurückzuschicken. Gegen die Einbürgerung der Syrer sprach sich eine Mehrheit von 85 Prozent aus. Doch in den Medien kommen die Flüchtlinge kaum vor. "Es ist ein Thema, dem alle am liebsten aus dem Weg gehen", sagt Professor Erdogan.

Als das syrische Regime die Demokratiebewegung im Herbst 2011 gewaltsam niederschlug, öffnete Ankara die Grenzen für die Flüchtlinge. Weitgehend unkontrolliert strömten die Menschen ins Land. Premier Recep Tayyip Erdogan, der heute Präsident ist, übernahm damit in gewissem Sinn auch Verantwortung für seine Syrienpolitik, mit der er sich gegen Diktator Bashar al-Assad und auf die Seite der Revolution gestellt hatte. Derzeit sind 2,56 Millionen Syrer offiziell in der Türkei registriert, was ihnen Zugang zur kostenlosen medizinischen Versorgung sichert. Die Aufnahme der Flüchtlinge hat laut Regierung bisher rund zehn Milliarden Dollar gekostet. Nennenswerte Hilfe aus dem Ausland gab es nicht. Trotz weit geringerer Wirtschaftsleistung nahm die Türkei damit mehr Flüchtlinge als ganz Europa auf und ist laut UN in absoluten Zahlen "Weltmeister der Flüchtlingshilfe". Weltweiten Respekt hat sie sich auch mit ihren herausragend ausgestatteten Flüchtlingslagern erworben; die "New York Times" nannte diese "so perfekt, wie man Flüchtlingscamps nur bauen kann". Dort leben allerdings nur etwa zehn Prozent der Schutzsuchenden, meist die Ärmsten der Armen. Denn das Grundprinzip der türkischen Flüchtlingspolitik lautet: "Wenn ihr ins Lager geht, wird all-inclusive für euch gesorgt, aber ihr habt keine Perspektive. Wenn ihr nicht dorthin geht, könnt ihr machen, was ihr wollt, solange ihr nicht gegen Gesetze verstoßt, aber außer der Basis-Gesundheitsversorgung nichts erwarten."

Zusammenprallmuslimischer Welten

Die meisten Flüchtlinge haben sich inzwischen über das ganze Land verteilt. Sie folgen der Arbeit, ziehen vor allem in die großen Städte. Unter ihrem Andrang schnellten die Mietpreise in die Höhe, gleichzeitig sanken die Löhne für einfache Arbeiten dramatisch. Manche Syrer schuften für zehn Euro die Woche. Die Entwicklung macht viele Türken zornig. Zwar sind offene Übergriffe extrem selten, aber es gibt Einzelfälle wie in Kahramanmaras, wo ein 500 Mann starker Mob von Ultranationalisten im Sommer 2014 syrische Flüchtlinge angriff. In den vier Wahlkämpfen der vergangenen zwei Jahre spielten die Flüchtlinge praktisch keine Rolle. Fremdenfeindliche Parolen gab es nicht.

Der Aufruhr von Kahramanmaras beleuchtete aber ein Problem, das viele Türken vor allem im konservativen Zentral- und Ostanatolien dennoch mit den Zuwanderern haben. "Sie sind nicht wie wir", meint Enes Bascik, Händler für getrocknete Früchte im überdachten Basar der Stadt. "Sie sitzen bis Mitternacht auf der Straße, ihre Frauen tragen kein Kopftuch und gehen abends auf die Straße." Geklagt wird über arabische Ladenschilder, mangelnde Religiosität der Zuwanderer oder reiche Syrer, die die Immobilienpreise verderben. Die Furcht vor einer "Arabisierung" der Türkei durchzieht alle Gesellschaftsschichten.

Von einem "Zusammenprall der Kulturen" spricht die 35-jährige Syrerin Rana Sayah, die aus der umkämpften Stadt Deir es-Sour vor der Dschihadistenmiliz IS in die Türkei geflüchtet ist, wo sie jetzt in der südostanatolischen Stadt Sanliurfa lebt. "Sie sind viel konservativer als wir", sagt die gelernte Apothekerin über die Menschen in der Osttürkei. Rana ist der Türkei dankbar für die Rettung vor dem Tod, die kostenlose Gesundheitsversorgung. "Aber sicher fühle ich mich hier nicht immer", sagt die selbstbewusste Frau in fließendem Englisch. "Türkische Männer belästigen mich auf der Straße, sie denken, wir Syrerinnen sind leichte Beute. Sie sind den Umgang mit Fremden überhaupt nicht gewöhnt und wundern sich, wenn ich sie lautstark zurechtweise." Rana glaubt, dass viele Türken vor allem durch die schiere Anzahl der Migranten überfordert sind. Sie will im Rahmen der Familienzusammenführung so schnell wie möglich zu ihrem Bruder nach Dortmund. "Vielleicht gehen wir aber zuerst nach Istanbul", sagt sie, "dort geht es nicht so konservativ zu."

Aus den einstigen Gästen wurden Dauerbewohner

Doch auch im moderneren Westen der Türkei keimen Ängste vor Arabern, wenn auch aus anderen Gründen. Alewiten fürchten eine Stärkung des sunnitischen Islams, Ultranationalisten und Kemalisten die Aufweichung des türkischen Einheitsstaates. Nicht wenige Menschen in der Westtürkei glauben, dass erst die offene Grenze radikale Islamisten und Terroristen ins Land brachte und dass sich Erdogan mit den Syrern bewusst neue Wähler ins Land hole. "Unsere Grenzen wurden unkontrollierbar", schrieb der bekannte Kolumnist Mehmet Y. Yilmaz in der "Hürriyet". "Wir haben Milliarden ausgegeben, aber trotzdem Massen hungriger und verzweifelter Flüchtlinge in unseren Straßen, und es gibt keine Autorität, die sich darüber Gedanken macht, welche Probleme das uns in Zukunft bereitet."

Als die Migranten in Parks und an Stränden lagerten und mithin die Tourismusindustrie gefährdeten, ergriffen die Behörden erstmals massive Zwangsmaßnahmen. Einige Städte wie Bodrum und Fethiye wurden zu No-Go-Areas für Flüchtlinge erklärt. Plötzlich nahmen die Türken wahr, dass sie auf die Zuwanderung total unvorbereitet waren, materiell und mental. Seit dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei im Jahr 1923 hatte es keine nennenswerte Migrationsbewegung von außen in ihr Land mehr gegeben. Aber auch die Regierung sah den Zustrom anfangs nicht als großes Problem an, denn sie ging davon aus, dass die Syrer bald wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Deshalb wurden diese auch als "Gäste" bezeichnet. "Gast zu sein bedeutet, dass man - zumindest theoretisch - jederzeit aus dem Land geworfen werden kann. Ohne offizielles Asyl gibt es keine Integration", sagt Sema Karaosmanoglu, Chefin der Istanbuler Hilfsorganisation Support to Life.

Ganz zaghaft macht der Begriff Integration inzwischen Karriere in der Türkei. Auch wenn niemand es hören wolle, schrieb der Kolumnist Yusuf Kanli, müsse endlich über die Eingliederung der Flüchtlinge geredet werden. "Unsere Nation muss sie umarmen und unsere Anführer müssen, statt Sprüche zu klopfen, Rechtsreformen durchführen, um ihre Integration zu fördern." Bisher bietet die Türkei keine staatlichen Sprachkurse oder andere Integrationshilfen an.

Ruf nach Integrationsmaßnahmen

Doch allein das Sprachenproblem ist eine gewaltige Hürde auf dem Arbeitsmarkt. Vor drei Wochen verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das Flüchtlingen den legalen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht, damit sie nicht mehr zu Dumpinglöhnen arbeiten müssen - eine erste Maßnahme gemäß dem gemeinsamen Aktionsplan mit der EU, um die Abwanderung nach Europa zu stoppen. Vizepremier Numan Kurtulmus sagte kürzlich, die Türken würden mit den Syrern leben müssen: "Sie werden dauerhaft bleiben, und deshalb geht es jetzt darum, ihre Probleme dauerhaft zu lösen." Mehr als 60.000 syrische Kinder wurden bereits in der Türkei geboren. Um keine "verlorene Generation" heranzuziehen, bracht es dringend Schulen - ein Thema, bei dem auch die EU gefragt ist.