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"Willst du dich vor der Kamera zeigen?"

Von Stefan Schocher

Politik

Viel war im Frühjahr 2022 die Rede von Versuchen, geflüchtete ukrainische Frauen in die Zwangsprostitution zu drängen. Das Thema ist aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Laut OSZE bahnt sich allerdings ein massives Problem an.


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Als Russland den Krieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 im großen Umfang ausweitete, war die ukrainische Gemeinde in Österreich eine überschaubare: etwas mehr als 10.000 Menschen - viele Alteingesessene, viele Studenten, einige Expats. Man kannte sich. Und dann: Dann waren es mit einem Mal weit über 50.000 Menschen aus der Ukraine, die in Österreich als Flüchtlinge registriert waren - und deutlich mehr, die sich nicht registrierten. Acht Millionen Menschen haben die Ukraine gen Westen verlassen im Zuge dieses Krieges. Geschätzte 90 Prozent der Neuangekommenen: Frauen und Kinder - was an einem seitens der Ukraine verhängten Ausreiseverbot für Männer im wehrfähigen Alter liegt.

Flucht, Entwurzelung, Perspektivlosigkeit und in weitere Folge ökonomische Nöte - eine Mischung ist das, die Andrea Salvoni, stellvertretender Koordinator der OSZE für die Bekämpfung von Menschenhandel, als "toxisch" bezeichnet. Denn er ist sich sicher: Der Krieg Russlands in der Ukraine bereitet das Substrat für Menschenhandel, Zwangsprostitution, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in vielen Bereichen von der Reinigungsbranche bis in die Landwirtschaft. Und zwar in riesigem Ausmaß. Einem Ausmaß, das sich noch kaum abschätzen lässt.

Ein riesiger Graubereich

Berichte über Zuhälter, die bereits im Februar und März 2022 gleich an der Grenze versucht hatten, Frauen in ihre Fänge zu locken, gab es massenhaft. Mehr als ein Jahr später ist das Thema aus der Wahrnehmung verschwunden. Und es ist auch tatsächlich wenig sichtbar. Laut der Beratungsstelle Sophie, die Sexarbeiterinnen berät und vor allem auch versucht, Geheimprostitution aufzuspüren, gibt es in Österreich "kein markantes Problem", wie eine Sprecherin sagt. Zumindest seien die Fälle, die es sehr wohl gebe, "statistisch nicht auffällig". Zugleich äußern Kenner der Szene aber auch die Vermutung, dass sich viel außerhalb der behördlichen und zivilgesellschaftlichen Wahrnehmung abspiele.

Ganz ähnlich klingt demnach auch die Einschätzung der Landespolizeidirektion Wien. Wie es in einer schriftlichen Stellungnahme auf Nachfrage heißt, gebe es "mit der etablierten Lokalszene selten Probleme". Verwiesen wird seitens der Exekutive aber auch darauf, dass Menschenhandel, grenzüberschreitender Prostitutionshandel und Zuhälterei "zumeist im illegalen Bereich" stattfänden. Hauptsächlich in der Wohnungsprostitution, in die man wenig Einblick habe. Allgemeines Fazit aber: Eine signifikante Häufung oder ein anwachsendes Problem bemerke man derzeit einmal nicht.

Vom Tisch ist das Problem für Andrea Salvoni damit allerdings keinesfalls. Allerdings gesteht auch er: "Was uns fehlt, sind die Fälle." Zugleich aber sagt er: "Zu sagen, es gibt keine Fälle, ist kein Argument." Denn: "Wir suchen nur nicht aktiv genug." Opfer von Menschenhandel würden nicht einfach in eine Polizeistation und sagen: ,Guten Tag, Ich bin ein Opfer von Menschenhandel.‘"

Und Indizien dafür, dass es ein potenziell riesiges Problem gibt, gibt es laut dem OSZE-Experten zuhauf: Zum einen ist da die offensichtlich gestiegene Nachfrage, wie die Auswertung von Online-Chats und Foren ergibt. Suchanfragen mit Inhalten wie "Ukrainian refugee porn" oder "Ukrainian escort" sind massiv gestiegen. Und Salvoni zufolge weiß man aus Erfahrung, dass auf eine solch explizite Nachfrage eben auch das Angebot folgt. Dass Menschenhändler und Zuhälter auf diese Anfrage bereits reagieren, ist bekannt: Denn in regulären Job- oder Wohnungsbörsen oder in entsprechenden Gruppen auf Sozialen Medien sowie in Telegram-Kanälen finden sich massenhaft eindeutige Annoncen, über die zum Beispiel auch gezielt nach minderjährigen jungen Frauen gesucht werde. Andrea Savoni nennt sie "Lehrbeispiele". Etwa, wenn da stünde: "Willst du Geld verdienen, ohne viel zu tun" oder "Willst du dich vor der Kamera zeigen."

Vor allem aber sind da die Erfahrungswerte aus dem Jahr 2014, die angesichts der heutigen Situation Sorgen bereiten: Auch damals, als Russland die Krim annektierte und in der Ostukraine einfiel, gab es eine Flüchtlingswelle. Zwischen 50.000 und 55.000 Personen gingen ins westliche Ausland - woraufhin sich die Zahl der Fälle von Menschenhandel vervierfacht hat, wie man über die darauffolgenden Jahre herausfand. Welche Folge, so Andrea Salvoni, würde also eine Fluchtwelle wie die jetzige von acht Millionen Menschen haben, von denen drei Millionen vermutlich nicht einmal registriert seien? Es sei dieser riesige Graubereich, der massiven Grund zur Sorge böte.

Verlagerung in Privatwohnungen

Allerdings hat sich seit 2014 so einiges verändert in den Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU. Und auch die damalige Fluchtbewegung war - was den rechtlichen Rahmen angeht - komplett anders eingefasst. Damals gab es weder Visafreiheit noch Zugang zum Arbeitsmarkt oder Sozialleistungen - ganz anders als heute. "Die Politik der EU in dieser Sache war großartig", sagt Andrea Salvoni über die Öffnung der Grenzen 2022. Allerdings: "Das Ausmaß ist das Problem."

Und ein Problem sind auch Entwicklungen im Prostitutionsbereich der vergangenen Jahre, die vor allem aus der Pandemie resultieren. So spricht auch eine in Österreich in dem Feld tätige Sozialarbeiterin von einem "Graubereich", der Sorgen bereite. Denn mit der Pandemie und der Lockdown-Schließungen von Bordellen und Etablissements hat sich in Sachen Prostitution sehr viel in unkontrollierbare Bereiche verlagert: Anbahnung im Internet, Vollzug in illegalen Bordellen oder in privaten Wohnungen. In Summe Bereiche, die behördlich oder via Sozialarbeit kaum zu kontrollieren sind und die für die Sexarbeiterinnen hohe Risiken und Gefahren mit sich bringen, da diese Strukturen Ausbeutung und Gewalt begünstigen.

Das sieht man seitens der Exekutive ganz ähnlich: Die Szene habe sich infolge der Pandemie in Wohnungen verlagert. Es würden "laufend Kontrollen durchgeführt" und es komme "zu zahlreichen Anzeigen und auch Schließungen der Wohnungen", heißt es auf Nachfrage. Aber auch in dieser Angelegenheit: Ein Anstieg habe bis dato nicht verzeichnet werden können. Es handle sich vor allem um Einzeltäter, die "im Umfeld der Opfer zu suchen sind". Netzwerke seien nicht bekannt. Die Ermittlungen würden sich allerdings schwierig gestalten.

Das liegt zu einem Teil wohl an etablierten Strukturen, aber womöglich auch an neuen Vorgangsweisen der Täter. Wie der OSZE-Experte Salvoni sagt, sei es höchst an der Zeit, Menschenhandel nicht mehr als Phänomen zu betrachten, das an Migration gebunden ist. "Die meisten Opfer von Menschenhandel in der EU sind heute EU-Bürger", sagt Salvoni. Demnach gehe es anders als früher weniger um das Einschleusen als vielmehr um das Ausnutzen sozialer Gefälle, um Ausbeutung sowie das Erpressen und Gefügighalten mit Videomaterial in einer Welt, die fast permanent online ist.

Steigende Finanznöte

Salvoni zufolge beginnt das Problem derzeit vermutlich gerade erst, so richtig Fahrt aufzunehmen. Langsam sickere bei den Geflüchteten die Erkenntnis, dass der Krieg noch dauern und man wohl länger bleiben werde müssen. Gleichzeitig gingen die finanziellen Ressourcen aber zunehmend zu Ende. Salvoni sieht in diesem Zusammenhang auch die prinzipiell begrüßenswerte Öffnung des Arbeitsmarkts mit Tücken behaftet. Denn die Geflüchteten sind zu einem beträchtlichen Teil alleinstehende Frauen oder Frauen mit Kindern - also eine Personengruppe, die am Arbeitsmarkt selbst dann benachteiligt ist, wenn sie bestens integriert ist und über perfekte Sprachkenntnissen verfügt. "Genau da setzen Menschenhändler an", sagt Salvoni.