Der Philosoph Charles Taylor über Interkulturalismus und neue Identitäten jenseits nationaler Klischees.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": In Wohlfahrtsstaaten spielt es eine große Rolle, welche Nationalität der Bürger hat, denn die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen sind ja an die Staatsbürgerschaft geknüpft.Charles Taylor: Wir brauchen ein neues "Wir": Es geht um eine neue Definition, was es heißt, Österreicher zu sein. Wir hatten in Kanada, vor allem in Québec, ein ähnliches Problem. Der französischsprachige Teil von Québec stammt von den ursprünglichen Siedlern ab. Die Antwort auf die Frage "Was ist ein Québécois?" lautete stets: Ein Québécois ist ein Abkömmling der ursprünglichen Siedler. Es gibt in Québec ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, wir Québécois glauben daran, dass wir einen ähnlichen Sinn für Humor haben - auf den wir übrigens sehr stolz sind - und suchen andere Gemeinsamkeiten.
Als die Zuwanderung begann, musste man einen neuen Zugang entwickeln: Wir sprechen in Québec von Interkulturalismus, nicht von Multikulturalismus. Letzterer Begriff wird im anglofonen Kanada verwendet. Ich denke, das Konzept der Interkulturalität wäre auch für Österreich relevant.
In welcher Hinsicht?
Denken Sie an diese deutschsprachige, katholische Nation Österreich mit all ihren Traditionen und ihrer Geschichte. Interkulturalität bedeutet, man entwickelt ein neues Verständnis dieser Nation, und zwar gemeinsam mit jenen, die nach Österreich zugewandert sind. Die nationale Identität bloß auf der Vergangenheit aufzubauen, darauf, woher man kommt, wird auch in Europa immer schwieriger; in Nordamerika oder Australien ist nicht daran zu denken. Denn wir sind mehr und mehr Zuwanderergesellschaften. In Kanada oder den USA verstehen wir uns seit Jahrhunderten als Zuwanderergesellschaften. In Europa ist das nicht das traditionelle Verständnis.
Aber wie können die Bürger zu einem neuen Verständnis ihrer Nation gelangen?
Genau das ist die entscheidende Frage: Wie können wir zu einem Verständnis gelangen, dass die Identität des Landes einer stetigen Veränderung unterworfen ist? Diese Fragestellung kann sich in einer Zeit ökonomischen Drucks, in einer Ära der Austerität, der allgemeinen Verunsicherung als äußerst schwierig gestalten. Und weil man dann nicht zur Antwort auf diese Frage gelangt, eröffnet sich rechtspopulistischen Parteien in weiten Teilen Europas das Feld. Die FPÖ hier in Österreich, der Front National in Frankreich, UKIP in Großbritannien oder Geert Wilders Partei für die Freiheit gewinnen an Zulauf.
Aber was ist die Idee von Österreich? Dass wir passabel Walzer tanzen können oder ganz gut Skifahren? Dass wir Mozart, Schubert und Haydn lieben? Wie sollen Mi-granten aus dem arabischen Raum oder anderen Teilen der Welt ihren Platz in Österreich finden?
Mozart ist nicht der Grund, warum die Menschen nach Österreich einwandern wollen. Aber lassen Sie mich über Kanada und Québec reden: Ich war Teilnehmer einer Kommission in Québec, die sich mit der Zuwanderung beschäftigt. In Umfragen haben wir die Migranten gefragt: Warum seid ihr nach Québec gekommen? Ihre übereinstimmende Antwort: Liberté. Freiheit. Viele Menschen, die nach Québec gingen, kamen aus dem Maghreb. Québec zieht Migranten an, die Französisch können. Daher ist es nicht überraschend, dass viele der Zuwanderer aus Algerien, Marokko oder Tunesien stammen. Des weiteren sagten die Migranten: Wir möchten, dass unsere Kinder eine Chance auf eine bessere Zukunft haben. Sie sollen es in die Universität schaffen. Wenn ein Teil dieses Traums erfüllt wird, dann werden ihre Kinder wunderbare Québécois und Kanadier. Sie werden sich mit französischsprachiger Literatur beschäftigen oder werden Chansonniers.
Sie glauben, dass Kultur eine Schlüsselrolle bei der Integration spielen kann?
Ja. Aber das braucht Zeit. Viele der Menschen, die nach Österreich gekommen sind, wissen vermutlich nicht, wie man Wolfgang Amadeus Mozart buchstabiert. Aber Kultur spielt eine Rolle. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Frankreich hat zwischen den beiden Weltkriegen eine große Zahl von Menschen aus Italien, Spanien, Portugal integriert. Gut, das sind katholische Länder, zugegeben. Aber die Integrationsleistung Frankreichs in dieser Zeit war phänomenal. Kämen sie je auf den Gedanken, dass der Schauspieler Yves Montand aus Italien stammte? Seine Eltern flohen aus dem faschistischen Italien, weil sein Vater Kommunist war.
Und wie verlief die Integration in den vergangenen Jahrzehnten?
Nach dem Zweiten Weltkrieg war das anders. Da war Frankreich alles andere als ein Integrations-Vorzeigeland. Die Integration der Maghrebiens hat nicht funktioniert. Einerseits gab es nach den Nachkriegsboom-Jahren Probleme mit Arbeitslosigkeit, dazu kam die schreckliche Kolonialgeschichte Frankreichs in Algerien. Eine Vielzahl der algerischen Maghrebiens lebte nun also in den Banlieues, wo es keine Jobs gab. Die Zuwanderer waren frustriert und es bildete sich eine Art Anti-Identität heraus. Tiefe Risse zwischen Zuwanderergesellschaften und den Alteingesessenen entstehen dann, wenn sich der Traum der Zuwanderer nicht erfüllt. Das moderne Frankreich ist so ein Ort zerschellter Zuwanderer-Träume. Einige absurde Gesetze und Regeln der Laïcité - wie etwa das Trageverbot des Hijab in öffentlichen Gebäuden - haben zu diesem Riss sicherlich beigetragen. Denn für den französischen Staat hat das rein symbolische Bedeutung. Der Staat will die Trennung zwischen Staat und Religion deutlich machen. Gleichzeitig wird das von einigen Zuwanderergruppen so verstanden: Ihr gehört hier nicht dazu. Ich kehre zurück zum Gedanken, dass wir unsere Identitäten neu verstehen müssen: Die Antwort auf die Frage: "Wer ist Wiener?" lautet: Das sind jene Menschen, die dafür sorgen, dass Wien heute so gut funktioniert, wie es das eben tut.
Es entwickelt sich in dieser Zusammenarbeit ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Es bilden sich Freundschaften und vielleicht auch Rivalitäten heraus. Es beginnt mit einer Idee und diese Idee wird dann zu Fleisch und Blut.
Zur Person
Charles Taylor
ist ein 1931 in Montreal geborener kanadischer Politikwissenschaftler und Philosoph. Er beschäftigt sich mit Moralphilosophie, Liberalismus, multikulturellen Gesellschaften und Religionsphilosophie. Taylor lehrte u. a. an der Université de Montréal und an der Universität Oxford. Der praktizierende Katholik ist gern gesehener Gast am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien (IWM).