"Unter Premier Putin ist es schlechter geworden". | "WZ"-Interview mit Regime-Kritiker. | Alexander Lebedew wollte bei der Bürgermeister-Wahl in Sotschi, die am Sonntag stattfindet, kandidieren. Ein Gericht hat ihm das verboten, er will dagegen berufen. Beobachter glauben, dass die Nichtzulassung seiner Kandidatur eng damit zusammenhängt, dass Lebedew zu den schärfsten Kritikern von dem ehemaligen Präsidenten und heutigen Ministerpräsidenten Wladimir Putin gehört. Dies macht er auch im nachfolgende Interview deutlich, dass noch vor der Gerichtsentscheidung in Sotschti geführt wurde.
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"Wiener Zeitung": Sie haben vor kurzem den Londoner "Evening Standard" gekauft. In einer Zeit, in der Printmedien weltweit um ihre Existenz kämpfen - ist das die richtige Entscheidung für einen Geschäftsmann - oder ein Hobby? Alexander Lebedew: Das mit der Krise stimmt, und der "Evening Standard" ist davon nicht ausgenommen. Damit die Zeitung rentabel wird, muss sich die Redaktion anstrengen - das ist aber Aufgabe der Journalisten, das Blatt interessant zu machen. Aber ich werde der Redaktion nicht dreinreden, das würden sich die Journalisten auch nicht gefallen lassen. Aber eine Zeitung ist kein Geschäft, das ist ein gesellschaftliches Engagement.
Sie finanzieren aber auch in anderer Hinsicht riskante Unternehmen - die Moskauer "Nowaja Gazeta", wo auch Anna Politkowskaja gearbeitet hat. Fürchten Sie nicht nach den Journalistenmorden, dass Ihnen die Redakteure abhanden kommen - oder könnte das dazu führen, dass das Blatt seine Linie ändert oder einschwenkt?
Wenn jemand fragt, ob wir uns fürchten, hat es sich unsere Redaktion zum Motto gemacht, einfach nicht zu antworten. Im Übrigen ist die Redaktion trotz allem nicht kleiner geworden. Jetzt haben wir Michail Gorbatschow als Chefredakteur gewonnen.
Stimmt es, dass Gorbatschow trotz allen negativen Vorzeichen auf die politische Bühne zurückkehren will?
Er hat sie nie verlassen. Er ist nach wie vor politisch aktiv.
Aber wie aktiv, welche Rolle kann er noch spielen?
Welche Rolle kann jemand in einem Land spielen, in welchem es kein politisches Leben gibt und das Rating des Präsidenten 80 Prozent Zustimmung beträgt. Es gibt praktisch kein Mehrparteiensystem. Erstens herrscht in der Bevölkerung eine völlige Apathie gegenüber dem politischen System, niemand glaubt an eine Partei, und zweitens sind die Gesetzeshürden für Parteien sehr hoch. Minimum 50.000 Personen für die Registrierung usw., die Versammlungsvorschriften, eine Menge Ansprüche erfüllen usw.
Aber es ist kein Geheimnis, dass die Machthaber kein Interesse an Parteien haben. Sie sind zufrieden mit der Parteistruktur, die in Wirklichkeit keine ist, sondern nur eine Art Bühnenbild. Mit dem Unterschied, dass das Bühnenbild im Theater eine Funktion hat, hier aber keine.
Was hat sich Ihrer Meinung nach mit dem Wechsel Putins vom Präsidenten zum Premierminister geändert?
Es ist schlechter geworden.
In welcher Hinsicht? Putin zieht doch weiter die Fäden?
In wirtschaftlicher Hinsicht. Putin war ein besserer Präsident als er ein Premierminister ist. Er ist kein Wirtschaftsexperte und hat ein sehr schwaches Regierungsteam. Seine Leute sitzen entweder da und tun gar nichts, oder sie tun das Falsche. Und dazu blüht die Korruption noch mehr, auch in den Medien. Das ist kein Geheimnis.
Aber hat nicht Putin und die neue Regierung der Korruption im Besonderen den Kampf angesagt?
Wir sehen die Korruption jetzt mehr denn je florieren. In dieser Wirtschaftskrise werden große Summen an Staatsbanken, Staatsbetriebe und Oligarchen ausgeteilt .. .
Zählen Sie nicht auch zu den "Oligarchen"?
Was heißt hier "Oligarch"? Erstens bin ich nicht durch die Privatisierungskampagne zu meinem Geld gekommen, ich hatte nichts damit zu tun. Zweitens habe ich keine Schulden wie Deripaska. Drittens gehöre ich nicht der Regierung an und bitte sie um nichts. Was kann das für ein Oligarch sein, der Kartoffel zieht, Flugzeugtransporte durchführt und Kinderheime unterhält? Ich mache Dinge, die sonst kaum ein Unternehmer macht.
Und derzeit bin ich eigentlich blank, denn meine Unternehmen erfordern viel Kapital: ob nationale oder internationale Fluglinien - eine Fluglinie muss auf vier bis fünf Jahre kalkulieren können, anders geht es nicht. Alle meine Unternehmen erfordern einen starken Kapital-Input. Mit den Betrieben, die ich in Russland habe, kann man nicht das schnelle große Geld machen.
Die gegenwärtige Wirtschaftskrise in Russland hat Ihrer Meinung nach nichts mit jener in Amerika oder Europa zu tun - sondern?
Die war schon da. Es hat alles nur so gut ausgesehen. Acht Prozent Wirtschaftswachstum - auf dem Papier. Man hat einfach die projektierten Vorhaben als ausgeführte gezählt; in den Jahren des Goldregens hat man die Gehälter von Lehrern und Ärzten etwas erhöht - aber die Inflation hat das wieder aufgefressen. Und mit dem Mehrverdienst durch Öl hat man nichts gemacht; keine industrielle Produktion angekurbelt, keine veralteten Betriebe erneuert, keine Infrastruktur verbessert - sehen Sie sich doch nur unsere Straßen an! Seit 50 Jahren ist im Land nichts geschehen. Die Banken geben kein Geld? Die Leute nehmen keins, denn sie können es sich nicht leisten. Die Regierung hat nichts für die Masse getan, die wenig Geld verdient. Vom Bauboom haben nur zehn Prozent der Bevölkerung profitiert. Die haben gekauft, und der Rest hat nach wie vor nichts.
Betriebe, die wirklich für die Allgemeinheit produzieren wie die meinen, werden mit hohen Zöllen für die Einfuhr nötiger Maschinen bestraft, die bei uns aber nicht produziert werden. Ich habe die größten Gemüseplantagen im Land. Aber die Bürokraten, die meine Betriebe inspizieren, sind zahlreicher als die Leute, die bei mir arbeiten!
Können Sie sich so viel Kritik erlauben?
Wovor soll ich mich fürchten? Dass man mir meine Kartoffel wegnimmt? Das würde mir nur einen Mühlstein vom Hals schaffen!
Sie sagen, die Bevölkerung kann sich das Leben kaum leisten. Warum wird bis jetzt nicht mehr die Landwirtschaft gefördert statt teuer Lebensmittel aus dem Ausland zu importieren?
Weil Putin schlechte Berater hat. Wenn ein ahnungsloser Onkel zu ihm kommt und ihm etwas einredet, dann tut er das, weil er selbst nicht genug davon versteht, aber keine guten Leute hat. Er glaubt ja selbst, dass alles zum Besten ist. Er sieht sich abends die Fernsehsender an, die ja alle ihm gehören, und ihn und die Regierung loben, und glaubt die Märchen, die ihm seine Sender erzählen! Dabei verdienen die Macher auch noch eine goldene Nase daran. Wohin gehen die Milliarden, die Fernsehchefs bekommen?
Die Bevölkerung ist geduldig und wird kaum den Aufstand proben. Wie soll es also weitergehen?
Gott sei Dank, ein Aufstand ist nicht zu erwarten, das wäre auch sinnloses Blutvergießen. Putin wird immer wieder geraten, doch ein wenig das politische System zu öffnen. Wir brauchen eine lebendiger Demokratie als Diskussionsplattform, wo Verbesserungsvorschläge diskutiert und Missstände angeprangert werden können. Es würde genügen, sich nur ein wenig zu öffnen - niemand, keine Gorbatschow- oder Lebedew-Partei würde Putin ein Haar krümmen. Es würde keine Gefahr für ihn bedeuten. Es sollen nützliche Vorschläge im Parlament diskutiert werden können, echte Privatisierungsvorschläge, wo wirklich gewöhnliche Leute mithalten können, echte Unabhängigkeit der Justiz usw. Mangel an Demokratie schadet der Wirtschaft bei jedem Schritt. Wem nützt es, wenn Bürokraten mit eigenen Privatflugzeugen an die Côte d´Azur fliegen? Wenn sie in Staatssystemen wie in Privatbesitz leben und Privatbesitz vom Staat vereinnahmt wird?
Aber Präsident ist nun Dmitri Medwedew.
Gewiss, und der hätte mehr Macht, aber das politische Modell ist das Putins. Und als Ziehvater wird Putin von Medwedew respektiert - das würde ich wohl auch tun meinem Freund gegenüber, der mich zum Präsidenten gemacht hat. Aber wie gesagt: Demokratisierung wäre der Schlüssel zum Ausweg aus der Wirtschaftskrise und zu dauerhaftem Erfolg.
Zur PersonAlexander Lebedew scheint in der jüngsten "Forbes"-Liste nicht mehr unter der Milliardären auf. Die Wirtschaftskrise hat ihn viel Geld gekostet, wie auch andere russische Oligarchen, mit denen er aber nicht in einen Topf geworfen möchte. Beobachter sehen den harschen Kritiker des heutigen Ministerpräsidenten Wladimir Putin ambivalent, saß er doch einst für die Putin-Partei Einiges Russland, die er inzwischen wieder verlassen hat, im Parlament und war bis 1992 KGB-Agent in London. Über seine Bank "National Reserve Bank" ist er mit 30 Prozent an der Fluglinie Aeroflot beteiligt, hat ein Agrarunternnehmen und Anteile an etlichen Firmen, darunter der Gazprom.
Darüber hinaus ist der 49-Jährige - gemeinsam mit Michail Gorbatschow - auch Miteigentümer der regierungskritischen Zeitung "Nowaja Gaseta", für die die 2006 ermordete Journalistin Anna Politkowskaja arbeitete. Anfang 2009 erwarb Lebedew eine Mehrheitsbeteiligung an der britischen Zeitung "Evening Standard".
Kurz zuvor verkündete Lebedew zusammen mit Gorbatschow, dem Totengräber des autoritären Sowjetsystems und Initiator von Glasnost, die Gründung einer neuen Oppositionspartei. Bisher blieb die "Unabhängige Demokratische Partei" aber Makulatur.
"Die Parteistruktur ist in Wirklichkeit keine, sondern nur eine Art Bühnenbild."
"Mit dem Verdienst durch Öl hat man nichts gemacht - sehen Sie sich doch nur unsere Straßen an!"