Der ukrainische Ex-Wirtschaftsminister Pawlo Scheremeta über Krieg, Korruption und überteuerte Kondome.
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"Wiener Zeitung": Herr Scheremeta, Sie haben Ihren Rücktritt als Wirtschaftsministers der Ukraine vergangenen September, nach nur wenigen Monaten im Amt, damit begründet, nicht mit den "Leuten von gestern" zusammenarbeiten zu wollen. Ist die Ukraine Ihrer Ansicht nach unreformierbar?
Pawlo Scheremeta: In gewisser Weise ja. Da sind einerseits die Interessen derer, die von der Korruption profitieren und wenig Interesse daran haben, diesen Sumpf trockenzulegen. Da geht
es einerseits um die Beamten, aber auch um Unternehmer. Viele Geschäftsfelder sind Monopole, und statt diese Monopole zu bekämpfen, schützt der Staat diese Monopole auch noch. Und zweitens ist es das sowjetische Erbe - eine Art Mentalität, wofür der Staat steht und wofür er sorgen soll.
Haben Sie ein Beispiel?
Dieses Phänomen geht bis in die Semantik hinein. Nehmen wir Klein- und Mittelunternehmen. Etwas, das im Rest der Welt als "Registrierung" von neuen Unternehmen bekannt ist, heißt im russischen und ukrainischen Rechtssystem "Erlaubnis". Im Ministerium habe ich gesagt: Vergesst das. Streicht das aus eurem Gedächtnis. Unternehmer setzen ihr Geld und, in einem Land wie der Ukraine, manchmal auch ihr Leben aufs Spiel, um Geschäfte zu machen. Und wir haben nichts Besseres zu tun, als das zu erlauben oder nicht? Wie arrogant das ist! Dann bin ich draufgekommen: Das steht so in der Verfassung. Als würde die Wirtschaft dem Staat etwas schulden! Das ist die Mentalität, die immer noch herrscht.
Sehen Sie keinen Mentalitätswechsel - zum Beispiel im Kampf gegen die Korruption?
Ich sehe derzeit keinen Kampf gegen die Korruption, leider. Oder kaum. Ein Drittel der Parlamentsabgeordneten sind neue Leute, die sicher die besten Absichten haben, um die Korruption zu bekämpfen. Aber der Rest sitzt schon seit 15, 20 Jahren dort. Allerdings ist die Bevölkerung immer weniger gewillt, die Korruption zu akzeptieren.
Im Herbst wurde immerhin das Lustrationsgesetz verabschiedet, das den Apparat von politisch belasteten Mitarbeitern reinigen soll. Demzufolge könnte es zu einer Entlassung von bis zu einer Million Beamten kommen könnte. Wie kommentieren Sie das Gesetz?
Das ist ein sehr umstrittenes Gesetz, und die Dinge sind komplex. Was wirklich gemacht werden muss: Die alten Strukturen und Prozesse müssen aufgelöst werden - das gilt auch für die Kader des alten Systems. Manche von ihnen können wir wieder anstellen: die, die kompetent und sauber sind. Aber wir müssen sie in neue Strukturen, neue Agenturen, neue Ämter stecken. Und das sollten Institutionen sein, die nicht dazu da sind, die Wirtschaft zu schikanieren, sondern sie zu entwickeln. Auch um neue Märkte für die Unternehmen zu erschließen. Sie müssen nur mal in das Wirtschaftsministerium reingehen, um diesen Sowjet-Style zu spüren. Dort hängt eine Porträtreihe. Und raten Sie mal, in welchem Jahr diese Reihe anfängt?
Nicht etwa mit dem Jahr 1991 (Unabhängigkeit der Ukraine, Anm.)?
Nein, mit dem Jahr 1946. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Und heute ist es immer noch dasselbe: Diese Ämter sind es gewohnt, Ressourcen für etwas zu mobilisieren. Zu Sowjetzeiten waren es die Fünf-Jahrespläne, heute sind es die Taschen von einigen Leuten. Das muss aufgelöst werden. Das wäre eine Lustration. Nicht Menschen müssen lustriert werden, sondern die Strukturen.
Wie soll das konkret gehen?
Durch den Aufbau neuer Institutionen - etwa einem Anti-Monopol-Komitee, das wirklich Monopole bekämpft, oder einer neuen Agentur, die wirklich gegen Kartelle vorgeht. Unter meiner Ägide wurden die Hälfte unserer Kontroll-Agenturen aufgelöst. Es gab da zum Beispiel eine Agentur, die sich mit Preisregulierung für sozial sensible Waren beschäftigt hat. Ich dachte in meiner Naivität, da geht es um Brot, Milch oder Eier. Nein, da ging es um Kondome. Die ihrer Ansicht nach sechs Mal zu teuer sind. Wir haben die Agentur dann aufgelöst. Es ist doch so: Wenn neue Leute in alte Strukturen kommen, verhalten sich die neuen binnen zweier Monate wie die alten. Nicht alle natürlich, aber viele.
Es wird geschätzt, dass mindestens die Hälfte der Wirtschaft in der Ukraine Schattenwirtschaft ist. Sie haben in einem Interview einmal "Stimulation und Motivation" vorgeschlagen, um das zu bekämpfen. Was meinen Sie damit konkret?
Ein Hauptgrund für die Schattenwirtschaft - aber nicht der einzige - sind die hohen Sozialabgaben, die rund 40 Prozent ausmachen, da kommen noch 17 bis 20 Prozent Einkommenssteuer dazu. Die durchschnittliche Steuerlast beträgt in der Ukraine mehr als 50 Prozent - das ist zu viel. In Europa sind es durchschnittlich 35 Prozent. Also: Steuern senken und deregulieren.
Sprechen wir über das EU-Assoziierungsabkommen. Der Handelsteil soll Ende 2015 in Kraft treten. Wie optimistisch sind Sie im Bezug auf die Harmonisierung mit den EU-Normen?
Der Handelsteil wurde wegen der russischen Position verschoben, nicht wegen der Normen.
Aber es gibt doch auch Probleme mit der Harmonisierung der Normen - wie zum Beispiel in der Landwirtschaft...
Ja natürlich, der Prozess wird länger dauern. Das hat aber nichts mit dem Verschieben des EU-Assoziierungsabkommens zu tun. Mit dem Unterzeichnen des Abkommens haben wir uns verpflichtet, unsere Normen zu harmonisieren. Das wird ein paar Jahre dauern, nicht Monate. Aber wir müssen natürlich so schnell wie möglich vorwärtskommen. Ich bin froh, dass ich dazu etwas in meiner Amtszeit beitragen konnte, mit dem Gesetz über Standardisierung und Metrologie. Erst im Jänner wurde das dritte Gesetz über die technische Regulierung verabschiedet - das sind auch gute Nachrichten. Da mache ich mir in anderen Bereichen viel größere Sorgen.
Schon vor einem Jahr, als es am Maidan zum Umsturz kam, war vom Staatsbankrott der Ukraine die Rede. Dann kam die Krim-Annexion, dann der Krieg im Donbass. Kann sich die Ukraine diesen Krieg überhaupt noch leisten?
Die Ukraine kann es sich nicht leisten, sich diesen Krieg nicht zu leisten. Wir haben einen Aggressor, der unser Land besetzt. Wir müssen das verteidigen. Und wenn es um Krieg geht, ist das keine Frage des Geldes.
Was halten Sie vom Vorschlag des Investors George Soros, die westlichen Wirtschaftshilfen für die Ukraine um 50 Milliarden US-Dollar aufzustocken?
Die Ukraine kann sich glücklich schätzen, Freunde wie Soros zu haben. Das Land wird mehr als 50 Milliarden US-Dollar brauchen - aber nicht in Form von Staatshilfen, sondern in Form von privaten Investments. Und die Ukraine hat Investoren viel zu bieten: einen riesigen, völlig ungesättigten Markt. Dafür brauchen wir aber Deregulierung, Wettbewerb, Erleichterungen für die Wirtschaft und eine gute Steuer- und Währungspolitik. Alle meine Kollegen im Wirtschaftsministerium waren Feuer und Flamme für eine Art Marshall-Plan in der Ukraine. Aber ich habe gesagt: Moment mal! Das ging meinem Verständnis nach damals auch Hand in Hand im Aufbau mit einer völlig neuen Bürokratie. Da sind wir wieder bei der Lustration.
Sie gelten als großer Befürworter von strikter Sparpolitik. Hat Sie da das jüngste Beispiel in Griechenland nachdenklich gemacht?
Ja, Griechenland ist natürlich eine wichtige Lektion, auch für ein Land wie die Ukraine. Deswegen sage ich: Sparkurs allein, ohne Deregulierung, funktioniert nicht. Austerität ohne aktive Entwicklung der Wirtschaft geht nicht. Am Ende gewinnt ein Linksradikaler. Und glauben Sie mir: Im Fall der Ukraine wäre das dann kein charmanter, englischsprechender Typ, der Premier oder Finanzminister wird... Wir brauchen einen große, allumfassende Deregulierung - eine Art Urknall.
Eine Schock-Therapie?
Es ist eine Therapie, nicht einmal ein Schock. Wir sind ja schon mitten im Schock, haben 30 Prozent Währungsverfall. Eine Deregulierung wäre allerdings ein Schock für alle Korrumpierten und Bürokraten, die am System hängen.
Planen Sie eigentlich eine Rückkehr in die Politik?
Ich sehe derzeit keine Bewegung, die mutig genug wäre, um für die unpopulären Prinzipien einzustehen, für die auch ich einstehe. Es muss klipp und klar gesagt werden, dass es schmerzhafte Reformen braucht und dass die Erwartungen an den Staat - was Sozialleistungen angeht - überzogen sind. Es sollte eine Partei geben, die das den Leuten ehrlich sagt. Ich befinde mich derzeit in einer Art Prozess, Gleichgesinnte zu finden. Aber ich bin da noch in einem sehr frühen Stadium.
Pawlo Scheremeta
wurde kurz nach der Absetzung des ukrainischen Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch Ende Februar zum Minister für Wirtschaftliche Entwicklung und Handel der Ukraine ernannt. Der 1971 in Lemberg geborene Ökonom trat mit September des Vorjahres von seinem Posten zurück. Davor hatte er unter anderem die Regierung von Malaysia wirtschaftlich beraten und war Präsident der Kyiv School of Economics.