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"Wir erleben den Karfreitag der Flüchtlinge"

Von Michael Chalupka

Politik

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"In diesem Jahr erleben wir in Österreich einen Karfreitag der Flüchtlinge." So beginnt der Hirtenbrief des Bischofs Herwig Sturm der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich, der heute in allen Gottesdiensten verlesen wird.

"Mehrere hundert Menschen stehen in diesen Tagen auf der Straße, weil Bürgermeister allein gelassen, nicht den Mut finden, Flüchtlinge aufzunehmen, der Innenminister seine Verantwortung leugnet und die Bundesregierung schweigt", setzt er fort.

Wie konnte es zur Tragödie kommen, nach dem medial pompös inszenierten Weihnachtsfrieden, nach den feierlichen Versprechen, dass bis Ende April kein Flüchtling auf der Straße stehen müsse, und nach der Einigung zwischen Bund und Ländern? Wen immer man fragt, es gilt ein gemeinsames Bekenntnis: In Österreich soll kein Flüchtling auf der Straße stehen.

Alle wollen es, aber bringen es nicht zusammen. Flüchtlinge irren herum, werden der Straße und jeglicher Ausbeutung preisgegeben. Ein reiches Land schafft es nicht, humanitäre Mindeststandards einzuhalten - ein Armutszeugnis.

Ein Versuch, das Unerklärliche zu erklären

Innenminister Ernst Strasser, der die rechtlichen Möglichkeiten hätte, seinen Standpunkt auch durchzusetzen, gibt sich hilflos und bittet die Bürgermeister händeringend, Flüchtlinge aufzunehmen. "Seid mutig, helft mir!", ruft er ihnen zu, signalisiert aber zugleich: "Passt auf, das ist gefährlich, ich traue mich nicht!" Psychologisch gesprochen eine Double-bind Botschaft: "Holt mir die Kastanien mit bloßen Händen aus dem Feuer! Verbrennt euch aber ja nicht die Finger." Double-bind-Botschaften machen den Empfänger verrückt. Bürgermeister sind aber weder verrückt, noch können sie Helden sein, deswegen antworten sie im Zweifelsfall mit: "Nein, bei uns lieber nicht."

Die Länder sind in guter österreichischer Tradition sehr unterschiedlich, die einen sehr engagiert, die anderen reserviert. Das Problem eines gerechten Lastenausgleichs scheint schwer zu lösen, da kommt es zu "kreativen" Lösungsansetzen, wie es unlängst aus Vorarlberg tönte: Man könne sich vielleicht freikaufen und für mangelnde Quartiere eine Pönale zahlen. Nach dem Motto "Aus den Augen, aus dem Sinn".

Alle haben ein Problem. Niemand löst ihre Probleme. Das erzeugt Frust. Der Innenminister empfindet es als "brutale Vorgangsweise" vonseiten der Caritas, die keine Flüchtlinge mehr unterbringen kann und sie an ihn verweist. Der Innenminister leidet unter der Brutalität.

Alle haben ein Problem, alle leiden, sind hilflos und frustriert.

Die tschetschenische Familie mit kleinen Kindern, vier und sechs Jahre alt, wirft sich in der Beratungsstelle der Diakonie auf den Boden. Sie gehen keinen Schritt mehr weiter. Ob der vielen schweren Probleme, die alle haben, gerät ihr Problem aus dem Blick. Ein zerbombtes Haus, ein als Deserteur verfolgter Vater, eine traumatisierende Flucht in einem stinkenden LKW, für die sie alle Ersparnisse hingegeben haben. Keiner will das Elend sehen.

Der Hirtenbrief des Evangelischen Bischofs schließt mit den Worten: "Wer heute auf das Kreuz schaut, der kann in Jesus Christus seinen Erlöser sehen. Wer heute auf das Kreuz schaut, der sollte aber auch die Leidenden in den Gebieten von Verfolgung, Krieg und Not und vor allem auch die Leidenden mitten unter uns sehen. (.) Ich bitte den Innenminister und die Bundesregierung, rasch dafür zu sorgen, dass Österreich seinen Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen und AsylwerberInnen nachkommt." Die Probleme der Flüchtlinge müssen gelöst werden, damit "wir zu diesem Osterfest nicht wegschauen müssen von ihrem Elend, sondern auch in ihnen das Antlitz das "ecce homo" - "Siehe, das ist der Mensch" - erkennen können."

Mag. Michael Chalupka ist evangelischer Pfarrer und Direktor der Diakonie Österreich