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"Wir erschaffen das Mobbing"

Von Matthias Nagl

Politik

Der Psychotherapeut und NGO-Gründer Nicholas Carlisle erklärt, warum Mobbing in Schulen die ganze Gesellschaft betrifft und wie es reduziert werden kann.


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"Wiener Zeitung": Herr Carlisle, Sie haben die NGO "No Bully" gegründet. Bitte erklären Sie kurz, was die Organisation macht?

Nicholas Carlisle: Wir haben 2009 in San Francisco begonnen und früh festgestellt, dass Mobbing in der Schule ein riesiges Problem ist. Ungefähr ein Drittel der Schüler wird gemobbt. Diese Zahl ist weltweit ziemlich einheitlich. Wir haben auch festgestellt, dass die Auswirkungen von Mobbing oft langfristig und ernst sind und sowohl den Mobber als auch das Opfer betreffen. Das Opfer hat oft ähnliche Anzeichen wie nach Kindesmissbrauch. Die Täter haben ein höheres Risiko, gewalttätig zu werden.

Außerdem wissen viele Schulen nicht, wie sie mit Mobbing umgehen sollen. Auch das gilt für die gesamte Welt. Die meisten Schulen verlassen sich noch auf alte Methoden wie Bestrafung sowie Suspendierung und Ausschluss von der Schule. Speziell, was Mobbing betrifft, scheinen diese Maßnahmen die Situation noch zu verschärfen. Sie verändern das Verhalten des Täters nicht und sorgen für Vergeltung beim Opfer. Unsere Organisation versucht, Schulen zu helfen, eine Kultur der Inklusion zu schaffen und damit durch Prävention Mobbing zu vermindern sowie passende Antworten zu finden, wenn Mobbing passiert.

Wie kann man Mobbing verhindern und wie richtig darauf reagieren?

Wir sprechen mit der Schulführung und stellen uns die Frage: ’Wie kann man diese Schule zu einem Ort machen, zu dem sich jeder Schüler zugehörig fühlt?‘ Das ist die Kernfrage. Wir helfen den Schulen einen Leitfaden aufzusetzen, was zu tun ist, wenn man gemobbt wird und von wem man Hilfe bekommen kann. Außerdem helfen wir den Schulen Lehrpläne aufzusetzen, um positiven, respektvollen Umgang zu fördern. Für die Reaktion auf Mobbing setzen wir Lösungsteams auf. Diese bestehen aus acht Schülern, und zwar dem Mobber, jenen, die ihn bestärken, und drei oder vier Vorbildern unter den Schülern, zu denen die anderen Schülern aufschauen. Denen sagen wir, dass ein Mitschüler von ihnen gemobbt wird. Wir versuchen den Schülern zu erklären, wie es sich anfühlt, gemobbt zu werden. Sobald sie Einfühlungsvermögen entwickeln, fragen wir sie, wie sie das beenden könnten, und sie geben Empfehlungen. Unsere Erfahrung ist, dass diese Form der Intervention 90 Prozent der Mobbing-Fälle löst.

Sie arbeiten in unterschiedlichen Gesellschaften. Laut eines OECD-Berichts hat Österreich eine der höchsten Mobbing-Raten. Gibt es Gesellschaften, die zum Mobbing neigen?

Ja, die gibt es. Mobbing zielt auf Unterschiedlichkeiten ab, und es scheint die Werte einer Gesellschaft zu Unterschiedlichkeiten zu reflektieren. Je stärker eine Gesellschaft Personen marginalisiert, desto öfter gibt es dort auch in der Schule Mobbing. Ich kenne den OECD-Bericht, den Sie ansprechen. Es geht dort um Schüler, die angeben, gemobbt zu werden.

Wir wissen, dass die Bereitschaft von Schülern zu erzählen, was mit ihnen passiert, in manchen Ländern größer ist als in anderen. Zum Beispiel in Spanien scheint die Rate niedriger zu sein, es gibt aber auch Forschungsergebnisse, die zeigen, dass Kinder dort nicht zugeben wollen, gemobbt zu werden.

Deshalb glaube ich, dass Spanien ein größeres Mobbing-Problem hat, als aus dem OECD-Bericht zu schließen wäre. Ich kenne die Situation in Österreich nicht gut genug, um sie zu beurteilen, aber vielleicht haben die anderen Länder auch größere Probleme als sie zugeben.

In Österreich ist die Forderung nach Psychologen und Sozialarbeitern an den Schulen die passende Antwort auf Mobbing. Das ist eine sehr kostspielige Antwort, was halten Sie von dieser Lösung?

Wir, als Erwachsene, erschaffen das Problem des Mobbings. Wir erschaffen es nicht nur mit unserer Gesellschaft und unseren Werten, sondern auch wie wir unsere Schulen führen. Wenn man an den Schulen eine Kultur der Inklusion schaffen würde, würden die Mobbing-Raten zurückgehen.

Wer sagt, dass es ein Problem der Schüler ist und sie einen Psychologen brauchen, gibt den Schwarzen Peter weiter, denn so ist es nicht. Man kann nicht die Schüler dafür verantwortlich machen. Wir entwerfen die Gesellschaft und die Schulen.

Der Start Ihrer NGO fällt - ob zufällig oder nicht - mit dem Start des Booms der sozialen Medien im Internet zusammen. Haben die sozialen Medien Mobbing verändert?

Die sozialen Medien haben den Ort des Mobbings verändert. Sehr oft spielt sich Mobbing im Internet ab. Aber es scheint, die Häufigkeit von Mobbing nicht verändert zu haben. Oft werden jene Kinder, die von Angesicht zu Angesicht gemobbt werden, auch im Internet gemobbt. Auf der Täterseite ist es so, dass Kinder, die sich am Mobbing in der Schule nicht beteiligen würden, online extrem hasserfüllte Dinge sagen können.

Laut dem im Interview angesprochenen OECD-Bericht "Skills for Social Progress" waren im Schuljahr 2009 und 2010 21,3 Prozent der Buben zwischen 11 und 15 Jahren in Österreich schon Opfer von Mobbing. Das ist in dieser Personengruppe OECD-weit der Höchstwert, der OECD-Durchschnitt liegt lediglich bei elf Prozent. Deutschland liegt genau im Durchschnitt, Schweden kommt mit vier Prozent auf den geringsten Wert. Bei den 11- bis 15-jährigen Mädchen liegt der Wert in dem im Frühjahr veröffentlichten Bericht für Österreich bei knapp 14 Prozent.

Nicholas Carlisle
ist Gründer der international tätigen Nichtregierungsorganisation "No Bully". Der Psychotherapeut wurde selbst in der Schule gemobbt und sprach beim "Salzburg Global Seminar".