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Wir Europäer sind doch anders

Von Engelbert Washietl

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Was verursacht nationale Pein? Bei den Amerikanern ist es Sex, bei den Deutschen die akademische "Integrität" - eine amerikanische Debatte über den Fall zu Guttenberg.


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Der US-amerikanische Kulturkritiker Michael Kimmelman, der als Autor renommierter Zeitungen und Zeitschriften wie "New York Times" und "Time" nicht zuletzt auch von Berlin aus manchmal über europäische Absonderlichkeiten nachdenkt, spießte dieser Tage unter dem Titel "Wie die Mächtigen in Berlin zu Fall kommen" die Affäre um den zurückgetretenen Verteidigungsministers Karl Theodor zu Guttenberg auf. Die Geschichte rund um Plagiate in zu Guttenbergs Dissertation eignet sich für tiefschürfende Analysen nationaler Unterschiede.

Auf die Spur kam Kimmelman durch den deutschen Autor Peter Schneider, der einen inneren Zusammenhang zwischen zu Guttenbergs sorglosem Umgang mit Quellen und Fußnoten und der Sexaffäre des US-Präsidenten Bill Clinton hergestellt hatte. In beiden Fällen sei es um die Frage der Ehrbarkeit gegangen.

Das ist freilich ein mutiger Link zwischen zwei unehrenhaften Handlungen und deren Ahndung durch das empörte Staatsvolk. Im Fall Clinton muss man inzwischen der Erinnerung nachhelfen. Nach seiner Wiederwahl 1996 ließ sich der US-Präsident in seinen Amtsgemächern in händische Betriebsamkeiten mit der Praktikantin Monica Lewinsky ein, hatte Oralsex, leugnete seine Handlung lange und wurde von politischen Gegnern und Medien erbarmungslos verfolgt.

Die Methoden, die Clintons Feinde im Namen der nationalen Moral anwandten, erregten außerhalb der USA sowieso, vermutlich aber auch bei der schweigenden Mehrheit der Amerikaner immer stärkeren Widerspruch, weshalb es nicht zur Amtsenthebung kam. Dass Spermaspuren auf den Kleidern des US-Präsidenten untersucht wurden, offenbarte eine außer Rand und Band geratene negative Potenz der amerikanischen Innenpolitik. In Europa einschließlich Silvio Berlusconis Italien würde eine derartige Vorgangsweise selbst bei sittenstrengen Bürgern kaum Beifall finden - aus Anstand.

Worüber stürzte aber der arme Karl-Theodor zu Guttenberg, ein sogar bei linksgerichteten Medien populärer CSU-Politiker? Über die Anmaßung eines Doktortitels, der zweifellos nicht nur in Deutschlands beruflicher und sozialer Welt einen hohen Wert hat. Süffisant zitiert Kimmelman aus den Regeln der Lufthansa für Ticketbuchungen: Es werde unterschieden zwischen einem Doktor, Professor und Professor Doktor, gar nicht zur reden von der ebenfalls nicht auszuschließenden Formel "Herr Professor Doctor Doctor".

Gegen die Grundlagen solcher Würden zu verstoßen und deshalb zurückzutreten - das ist aus US-amerikanischer Sicht deutsche Ethik pur. Während zu Guttenberg in Bayern schon psychisch wiederaufgetankt wird, fügt der Journalist Ulf Poschardt, der im Jahr 2000 bei der "Süddeutschen Zeitung" über eine (wenn auch nicht seine) Fälschung gestürzt war, eine innerdeutsche Variante hinzu: Die Vertreibung zu Guttenbergs sei ein lächerliches Beispiel für deutsche Scheinheiligkeit und ultramoralistischen Protestantismus.

Man sieht: Die Angst um den Verlust der Ehre oszilliert, bei den Amerikanern im Zusammenhang mit Sex, bei den Deutschen, wenn es um Integrität mit akademischer Lizenz geht. Der deutsche Ex-Verteidigungsminister hat dank seiner in der Uni-Zeit lockeren und in der Politik soldatischen Pflichtauffassung dazu beigetragen, einen weiteren Unterschied in den Wertordnungen der USA und Europas zu enthüllen.

Der Autor ist Sprecher der Initiative Qualität im Journalismus; zuvor Journalist bei "Wirtschaftsblatt", "Presse" und "Salzburger Nachrichten".