Am Tag nach der Entmachtung Mursis steht die Frage im Raum, wie es weitergehen soll.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Kairo. Seit dem Sturz Hosni Mubaraks im Februar vor zwei Jahren hat es auf dem Tahrir-Platz nicht mehr so viele ägyptische Fahnen gegeben wie jetzt. Alles hängt voll davon. An den Schaufenstern vieler noch aus Sicherheitsgründen geschlossener Läden kleben Sticker in den Farben Rot-Weiß-Schwarz. Die vom langen Feiern übernächtigten Menschen haben die Nationalfarben auf ihre Wangen gemalt, Kinder halten Fähnchen in den Händen. Ein Autokorso fährt hupend mit wehenden Fahnen über den Platz wie sonst bei einer Hochzeit. Und als ob das alles nicht genug wäre, malen Flugzeuge der ägyptischen Armee die Farben der Flagge an den Himmel, just in dem Moment, als der neue Interimspräsident seinen Eid schwört. Adli Mansur heißt der Neue am Nil und soll jetzt als Präsident des Verfassungsgerichts die Geschicke des Landes bis zu Neuwahlen lenken.
Am Tag eins nach Mursi herrscht Aufbruchstimmung am Tahrir-Platz in Kairo. "Für Mubarak haben wir 18 Tage gebraucht, um ihn zu stürzen", sagt ein junger Mann, der der Stadtreinigung hilft, Berge von gegessenen Maiskolben, Cola-Dosen, Sandwich-Papier und Schalen von gerösteten und gesalzenen Kernen auf einen Haufen zu kehren. "Für Mursi nur fünf Tage." Ob sie den nächsten Präsidenten dann noch schneller stürzen wollen? Tarek lacht und zuckt mit den Schultern: "Darin sind wir jetzt Profis. Wer einen Präsidenten stürzen will, sollte sich bei uns eine Lektion holen." Ihren bemerkenswerten Humor verlieren die Ägypter auch in schwierigen Zeiten nicht.
Schon zwei Mal haben die Ägypter Zeugnis abgelegt, was die Kraft der Massen bewirken kann. Dominierte beim Langzeitpräsidenten Hosni Mubarak noch der Überraschungseffekt, ist es bei Mursi inzwischen das Selbstbewusstsein, das die Massen auf die Straßen trieb. "Und wenn der Nächste nichts taugt, kicken wir ihn wieder aus dem Amt", so die vorherrschende Meinung. Der Tahrir-Platz ist zum Synonym einer Graswurzelbewegung geworden, einer außerparlamentarischen Opposition. Da das erste frei gewählte Parlament der Post-Mubarak-Ära vom Verfassungsgericht aufgelöst wurde und die verbliebene zweite Kammer, der Schura-Rat, nur von Islamisten dominiert ist, stimmte die Opposition mit den Füßen ab. Man kann es auch als Referendum bezeichnen, was hier in den letzten Tagen passiert ist. Und das Militär half ihnen dabei. So jedenfalls sahen es Hunderttausende, als Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi die Absetzung Mohamed Mursis als Präsident verkündete, die Verfassung außer Kraft setzte und eine Übergangsregierung aus Technokraten ankündigte. Nein, sagten die Menschen im Freudentaumel am Tahrir, ein Militärputsch sei das nicht. "Das Volk und die Armee gehen Hand in Hand." Der Slogan aus den Tagen der Revolution gegen Mubarak ist wieder auferstanden. "Teil zwei des Honeymoon zwischen Volk und Armee", titelt die Zeitung Al Ahram. Vergessen scheint die Zeit, als am Tahrir neben Hosni Mubarak auch Feldmarschall Tantawi symbolisch am Galgen hing und der Zorn der Opposition sich gegen den Mubarak nachfolgenden Militärrat richtete. Auch deshalb haben viele Ägypter bei den Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr Mohamed Mursi ihre Stimme gegeben, weil sie die Macht der Militärs brechen wollten.
Umsturz - und was jetzt?
Der Kellner im Café Riche in der Talat-Harb-Straße, die vom Tahrir-Platz abgeht, scheint so alt zu sein wie das Gasthaus selbst. Ohne eine Miene zu verziehen, verrichtet Ibrahim seinen Job, schleppt Tabletts mit Essen und Trinken an die Bistrotische. Seit 1908 ist hier ein Kommen und Gehen, jede Epoche hinterlässt Spuren ihrer Gäste. Den schwarzen Kellner aus Nubien, ganz im Süden von Ägypten, an der Grenze zum Sudan, ficht die Aufregung dieser Tage nicht an. Er steht über der Zeitenwende. An den Wänden hängen vergilbte Fotos von Berühmtheiten wie Nobelpreisträger Nagib Mahfus, von Schauspielern und Musikern aus den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Jassir Arafat soll während seines Studiums in Kairo im Riche verkehrt haben und auch Iraks Saddam Hussein. Nach der Revolution der freien Offiziere 1952, die den König stürzten und seitdem nur Militärs als Staatsoberhäupter zuließen, wurde das Café traditionell zum Treffpunkt der Opposition. Mitglieder der Wafd-Partei und der Tagumma unterhielten schon zu Zeiten Mubaraks regelmäßig Stammtische hier und auch Mohamed ElBaradei, der jetzt für einen hohen Posten in der Übergangsregierung vorgesehen ist, ist schon im Riche gegessen. Der Sturz Mursis wurde bis um drei Uhr morgens gefeiert. Neun Stunden später sitzen die neuen Revolutionäre mit tiefen Ringen unter den Augen beim Frühstück und fragen sich, wie es jetzt weitergeht mit Ägypten.
"Islamisten vor den Kadi"
Die Ära der Muslimbrüder sei endgültig vorbei, meint ein Student, der extra aus Alexandria in die Hauptstadt kam, um den Sturz Mursis mitzuerleben. "Die haben genug Schaden angerichtet." Er findet es gut, dass die Militärs hohe Funktionäre der Muslimbrüder verhaftet und Mohamed Mursi zum Hausarrest im Verteidigungsministerium verdonnert haben. "Denen gehört der Prozess gemacht." Als Vergehen der Islamisten nennt er die Verhaftungen von Demonstranten, Medienvertretern oder Bürgern, die während der einjährigen Amtszeit Mursis wegen Verleumdung des Präsidenten oder Blasphemie verurteilt wurden oder bei den blutigen Auseinandersetzungen vor dem Präsidentenpalast im November letzten Jahres von Schlägertrupps der Islamisten getötet und verletzt worden sind.
Eines allerdings müsse man Mursi und den Muslimbrüdern zugutehalten, meint ein anderer am Frühstückstisch. Durch ihr Verhalten hätten sie die ewig zerstrittene Opposition geeint. Nie zuvor seit der Revolution gegen Mubarak hätten die Oppositionskräfte mit einer Stimme gesprochen, weiß Amr, der sich zunächst Mohamed ElBaradei, dem ehemaligen Chef der Atomenergiebehörde und Friedensnobelpreisträger, anschloss und schließlich wegen der Streitigkeiten von ihm abfiel. Die Gründung der NSF, der Nationalen Heilsfront, mit den drei Schwergewichten Baradei, Amr Moussa und Hamdin Sabahi an der Spitze sei endlich einmal ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Doch die Tatsache, dass nicht die NSF, sondern die Graswurzelbewegung Tamarod die Kampagne gegen Mursi organisiert hat, lässt Amr befürchten, dass die Einheit der Opposition nicht lange währen werde. Trotzdem hofft er, dass die zugesagten Wahlen dazu führen könnten, dass endlich eine Alternative zu den Islamisten geschaffen werde. "Wir fangen nochmal von vorne an", sagt Amrs Nachbar und bestellt sich einen frisch gepressten Orangensaft gegen seine Kopfschmerzen. Hamdi ist Politikstudent an der Kairo Universität und weiß, was dieser "Coup d’Etat", wie er den Putsch galant nennt, zu bedeuten hat. "Alle staatlichen Institutionen sind außer Kraft gesetzt. Wir haben keinen Präsidenten, kein Parlament und keine Verfassung mehr." Das könne gefährlich und von böswilligen Kräften ausgenutzt werden. Doch das Vertrauen in die Armee, die es schon richten werde, ist am Tisch im Café Riche nahezu grenzenlos.
Angst vor Extremisten
Nur einer ist mit der Sichtweise der Frühstücksrunde nicht einverstanden. Bisher hat sich Haythem hinter einer Zeitung versteckt und geschwiegen. Erst nach Aufforderung sagt er, dass es nicht gut gehen könne, wenn die Muslimbrüder ausgegrenzt und alles wieder auf null zurückgedreht werde, so als ob es das eine Jahr Mursi nie gegeben hätte. "Die nächsten Wahlen werden zeigen, dass die Islamisten noch sehr stark sind", behauptet der Software-Designer, "vor allem auf dem Land." Unter allen Umständen müssten sie in den politischen Prozess integriert werden. "Wenn man sie kriminalisiert, radikalisiert man sie - und dann?" Das würde doch die Tür für Extremismus und Terrorismus öffnen", sagt Haythem vorausschauend. Aus dieser Ecke seien die Muslimbrüder doch schon einmal gekommen, hätten sich aufgrund der politischen Entwicklung in Ägypten inzwischen aber als moderate Kraft angeboten. "Wenn wir das kaputtmachen, dann steht es bald schlecht um unser Land." Dann werden Al-Kaida und alle anderen Jihadisten hier Einzug halten. "Wollt ihr das?", ruft Haythem verzweifelt.