Istanbul - Der Krieg hat kaum begonnen, doch im Nordirak entfaltet sich bereits ein Flüchtlingsdrama. Tausende kurdische Frauen und Kinder sitzen schutzlos in den kahlen Bergen, hausen in Zelten aus Plastiksäcken und ernähren sich mangels Brennstoffs teilweise von ungekochten Nudeln. Ihre Männer haben sie dort abgesetzt, um sie vor Giftgasangriffen zu schützen, und sind zum Kämpfen in die Städte zurückgekehrt. Die Kurden-Regierung in der nordirakischen Schutzzone warnt die Bevölkerung per Rundfunkdurchsagen vor der Flucht, doch der Exodus aus den kurdischen Städten geht weiter. Mindestens 30.000 Menschen sind im Nordirak schon jetzt auf der Flucht; die Türkei rechnet im weiteren Kriegsverlauf mit bis zu 300.000 Flüchtlingen.
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"Wir fliehen um unser Leben", sagt Bersim Abdullah, die mit ihren zwölf Kindern die Stadt Dohuk verlassen und in dem Dörfchen Kelesiho Zuflucht gesucht hat. Die Kurden fürchten vor allem Giftgasangriffe des irakischen Regimes, wie Saddam Hussein sie schon 1988 auf die kurdische Bevölkerung im Nordirak verübt hatte. In den Dörfern sei es sicherer als in den Städten, glauben viele Kurden. Rund 1.000 Städter hat allein Kelesiho in den vergangenen Tagen schon aufgenommen, darunter auch Fatma Cever aus Zakho mit ihren 15 Kindern. "Zum Glück haben wir hier Verwandte", sagte Cevher türkischen Reportern in dem Dorf. Die Verwandten haben noch weitere Angehörige aus den Städten aufgenommen, so dass in den zwei Zimmern ihrer Unterkunft nun schon 50 Menschen hausen.
Noch schlechter geht es jenen Nordirakern, die keine Verwandten auf dem Land haben. Auf den ersten Flüchtlingskonvoi der wohlhabenderen Kurden, die mit eigenen Fahrzeugen die Städte verlassen konnten, folgt inzwischen der Exodus der ärmeren Schichten. Dutzende Menschen drängen sich auf den Ladeflächen von Kleinlastern, zu deren Anmietung oft mehrere Familien zusammengelegt haben. Weil für Gepäck kein Platz mehr ist, haben viele nur ein paar Decken und einige Säcke mit Mehl, Reis und Nudeln dabei. Sie fahren, soweit ihr Benzin sie bringt, und schlagen dann am Straßenrand im Nirgendwo ihre Lager auf. Aus Decken und Säcken improvisieren sie Zelte, doch zum Kochen fehlen sowohl Wasser als auch Brennstoffe, weshalb ihnen selbst ihre kargen Vorräte wenig nutzen.
Das nordirakische Kurdenparlament in Erbil rief bereits den Notstand aus, weil auch aus den irakisch kontrollierten Gebieten schon Zehntausende Flüchtlinge im Nordirak eintrafen. Diese Fluchtwelle wurde inzwischen gestoppt, weil irakische Einheiten die inoffizielle Grenze zur Kurdenregion abriegelten. Mit Rundfunkappellen versucht die kurdische Führung, die eigene Bevölkerung zumindest von einer Flucht in die Nachbarländer abzuhalten. Die Lage sei unter Kontrolle, die Versorgung auch in den Städten sichergestellt, erklärte die Regionalregierung. Trotzdem sind einige Städte schon fast menschenleer, die Geschäfte geschlossen und die Häuser verrammelt.
Die Türkei ist darauf vorbereitet, bis zu 300.000 Flüchtlinge zu versorgen, will dies aber vorwiegend auf nordirakischem Gebiet tun. Alle Vorbereitungen für die humanitäre Hilfsaktion seien getroffen, sagte der türkische Vize-Ministerpräsident Mehmet Ali Sahin, der den Krisenstab in Ankara leitet. Das Parlament sollte Donnerstag Nachmittag den Entsendungsbefehl für die türkischen Truppen verabschieden, die im Nordirak einmarschieren und dort mehrere Flüchtlingslager errichten sollen. Die Türkei habe damit die Lehren aus der Katastrophe von 1991 gezogen, als die Ankunft von 500.000 Flüchtlingen sie unvorbereitet traf, sagte Sahin.