Der ungarische Schriftsteller und Ex-Politiker Endre Kukorelly im Interview.
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"Wiener Zeitung":In der ungarischen Kultur ist der Pessimismus ein großes Thema, im Lebensgefühl fast schon ein Wert. Sie wirken aber eher wie ein Optimist. Sind Sie, dieser ungarischen Logik entsprechend, ein Vaterlandsverräter?Endre Kukorelly: Ich bin kein repräsentativer Ungar, der Rest ist ein Missverständnis. Ich bin ausreichend stark, um das Positive auszustrahlen. Ein Optimist bin ich deswegen nicht, das wäre übertrieben. Der Pessimismus wiederum ist ein sich selbst erfüllender Mythos. Meine Großmutter sagte immer: Wer klagt, dem soll auch etwas weggenommen werden - und damit bin ich einverstanden. Es ist ein ungarisches Sprichwort und besagt, dass das Klagen zu Recht nur noch mehr Unglück bringt. Jeder sollte etwas dafür tun, dass die Dinge besser laufen. So bin ich in die Politik hineingeraten. Ich war neugierig, wie die Dinge funktionieren.
Und wie funktionieren sie?
Wir Ungarn funktionieren nicht richtig. Macht ist etwas, das ausgeübt werden muss. Die Frage ist, wie man das tut. Es darf nur so weit gehen, wie wir Bürger dies erlauben.
Missbrauchen Ungarns Regierungspolitiker derzeit ihre Macht?
Ja, das tun sie. Moralisch gesehen sind sie damit im Unrecht. Aber wir sollten weniger mit dem Finger auf die Politiker zeigen, die stehlen und betrügen. Stattdessen sollten wir vor der eigenen Türe kehren und uns fragen, ob wir nicht alles dafür tun, den Politikern "Halt" zu bieten. Die Menschen glauben - und darin liegen sie im Irrtum -, dass die Politiker ihre Führer sind. Dabei sind sie ihre Diener, sie sind im öffentlichen Dienst. Wir sind das Wahlvolk, also sind wir der Chef. Wir vertrauen dem Ministerpräsidenten die exekutive Gewalt an, an unserer Stelle. Ein Beamter ist aber immer frustriert, weil er der Diener ist. Deshalb wird er stehlen. Ein wenig sollte man ihn auch stehlen lassen. Nur muss es dafür eine Grenze geben.
Viele Ungarn haben Angst, gegen die Regierung aufzubegehren. Gilt dies auch für die Kunstszene?
Das Problem ist, dass die Kunstszene noch viel gespaltener ist als andere Berufssparten. Auch hier gibt es Linke, Konservative, Liberale. Die Spaltung herrscht auch nach Gattungen: Die Maler kennen die Schriftsteller nicht, Schriftsteller kennen die Musiker nicht, die Musiker wiederum kennen überhaupt niemanden. Daneben gibt es auch viel Neid und Frustrationen. Das sehen auch die Politiker, also jene, die das Geld verteilen. Davon profitieren sie, um noch weniger Geld zu verteilen, und damit steigern sie die Irritationen. Deswegen gibt es zu wenig Solidarität.
Wer ist schuld an diesem Zustand?
Wir alle. Ich. Die Ungarn.
Haben Sie im Parlament auch den Ministerpräsidenten Viktor Orbán persönlich getroffen?
Ich kenne Orbán schon seit 1987. Er hat damals als Student ein Interview mit mir gemacht. Ich habe ihn als sehr ehrgeizigen jungen Mann aus der Provinz erlebt, einen Intellektuellen der ersten Generation ...
Das bedeutet: Seine Eltern waren keine Intellektuellen . . .
Ja. Ich hatte mich 1989 auch gefreut, dass dieser junge Mann und andere aus seiner Generation beginnen, politisch etwas aufzubauen. Ich hatte geglaubt, dass sie diese alte ungarische Bipolarität zwischen Kuruzzen und Labanzen aufheben.
Kuruzzen waren die antihabsburgischen Protestanten, Labanzen die pro-habsburgischen Katholiken.
Ja. Stattdessen hat Orbán das Vakuum genutzt, das im rechten Sektor nach dem Tod des konservativen Ministerpräsidenten Jozsef Antall (1932-1993, Anm.) entstanden ist. Von da an band sich Orbán eine Krawatte um, und sie stand ihm überhaupt nicht gut. Er hat damit seine Authentizität völlig verloren.
Interessiert ihn die Kultur? Liest Orbán Bücher?
Zuletzt habe ich 1992 bei einer Literaturveranstaltung länger mit ihm gesprochen. Er ist nicht kulturfeindlich, nur interessiert ihn die Kultur nicht wirklich. Er hat wohl auch keine Zeit dafür. Dasselbe gilt aber auch für Kollegen heute im Parlament. Sie hassen die Kultur nicht, sie übersteigt nur einfach ihren Horizont. Das Einzige, was sie interessiert, ist die Maximierung der Wählerstimmen. Ihrer Meinung nach ist die Kultur dabei kein Faktor.
Aber gerade die Orbán-Regierung ist dabei, über eine erzkonservative Kulturpolitik das Land umzubauen. Eine Art kulturelles Sendungsbewustsein ist wohl da.
Ja, aber ein falsches. Alles entspringt nur dem Hass auf das, was sie links-liberale Kultur nennen, die sie gar nicht kennen. Sie wollen einfach nur den Gegenpol unterstützen. Nicht aus ästhetischen, sondern aus rein politischen Gründen.
Was hat Sie im Parlament am meisten überrascht?
Dass es auch bei der rechtsextremen Jobbik sehr gute Fachleute gibt - dass aber dieselben Menschen plötzlich, ohne Zusammenhang mit dem gerade diskutierten Thema, rassistisch daherreden.
Ihrer Partei LMP wurde vorgeworfen, zu oft mit Jobbik-Politikern zu sprechen. . .
Das ist eine schwierige Frage, die sich im Umgang mit den Rechtsextremen in ganz Europa stellt, wo sie ja etwa 20 Prozent ausmachen. Meiner Meinung nach soll man mit ihnen reden. Man kann sie zwar nicht überzeugen, aber doch wenigstens friedlicher machen. Ich finde es hingegen ekelerregend, dass Fidesz sich nicht genug von Jobbik distanziert und Dinge vertritt, um deren Wähler anzuziehen.
Zur Person
Endre Kukorelly wurde 1951 geboren. Er ist ein preisgekrönter ungarischer Schriftsteller, lebt und schreibt in Budapest. Von 2010 bis 2012 saß er für die grün-liberale Oppositionspartei LMP in Ungarns Parlament. Sein bekanntestes auf Deutsch erschienenes Werk ist "Die Rede und die Regel".