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Europas Flüchtlingsproblem könnte sich noch verschärfen, wenn Kenia das weltgrößte Flüchtlingslager sperrt.
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Bis November 2016 soll der weltgrößte Lagerkomplex rund um das kenianische Dorf Dadaab geschlossen und die Flüchtlinge heimgeschickt werden. Die meisten von ihnen kommen aus dem bürgerkriegsgeplagten Nachbarstaat Somalia. Schon 2013 handelten die Regierungen von Kenia und Somalia mit dem Betreiber des Lagers, dem UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR, ein Paket aus, mit dem die Flüchtlinge zurück nach Somalia gebracht werden könnten. Dabei wurden den freiwilligen Rückkehrern 200 US-Dollar, medizinische Hilfe und die Ansiedlung in einem der neun vorgesehenen Dörfer in Somalia garantiert. Dieses Angebot nahmen in den vergangenen drei Jahren aber nur 26.000 Personen an. Die "Wiener Zeitung" sprach in Kenias Hauptstadt Nairobi mit Liesbeth Aelbrecht von der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" (MSF), die in Dadaab ein Spital betreibt.
"Wiener Zeitung": Wie könnte die Schließung des Lagers in der Praxis funktionieren?
Liesbeth Aelbrecht: Eigentlich gar nicht. Wir glauben, dass das auch alle Parteien so sehen. Viel wahrscheinlicher ist ein neues Paket für diejenigen Flüchtlinge, die das Lager freiwillig verlassen.
Man spricht von einer Verdoppelung der Geldsumme auf 400 Dollar? Ist das nicht ein guter Anreiz?
Das Paket von 2013 war auch nicht unattraktiv. Wir sind also nicht sehr optimistisch, was das neue Paket betrifft, das zwischen Kenia, Somalia und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ausgehandelt wird.
Aber die Leute haben doch allen Grund, die tristen Lagerverhältnisse zu verlassen.
Nein, das kann man nicht so sagen. Wir haben dazu eine Umfrage gemacht, das Ergebnis ist eindeutig. 85 Prozent wollen sicher nicht nach Somalia heimkehren. Und hier sind wir schon beim wichtigsten Punkt: 30 Prozent der Menschen in den Lagern sind bereits dort geboren worden. Sie kennen das vermeintliche Heimatland Somalia gar nicht. Sie sind in Kenia geboren und fühlen sich auch als Kenianerinnen und Kenianer. Warum sollen die in ein fremdes Land gehen?
Weil es ihnen dort vielleicht besser geht?
Nein, das glauben die Flüchtlinge in der überwiegenden Masse nicht. Die Menschen haben schlicht und einfach Angst. Somalia ist ein Bürgerkriegsland mit Riesenunsicherheiten. Die Burschen haben Angst, dort von Milizen zwangsrekrutiert zu werden, und die Mädchen fürchten sich vor der Zwangsheirat. Und seit dem Überfall der islamistischen Shabaab-Milizen auf die Uni in Garissa (Sie tötete im Frühjahr 2015 148 Studentinnen und Studenten an der christlichen Universität Garissa, Anm.) haben die kenianischen Polizeikräfte die Gangart verschärft und kontrollieren die Lager besonders genau. Man glaubt ja, dass die Terroristen dort einen Stützpunkt aufgebaut haben. Damit ist aber jetzt die Sicherheit im Lager besser als draußen. Aus demselben Sicherheitsbedürfnis siedeln sich auch viele Familien rund um das Lager an.
Das passt zu der Tatsache, dass ja auch Kenianer im Lager sind.
Richtig. Die kenianischen Behörden haben in den vergangenen Monaten endlich einmal eine Bestandsaufnahme durchgeführt mit Namenslisten und Fingerprints. Und es zeigte sich, dass 17 Prozent der Bewohner Kenianer sind. Die Familien flüchten aus den unsicheren Dörfern ins Lager.
Wie kann man sonst die Menschen integrieren?
Hier kommen wir zur Tatsache, dass die angebotenen Standorte in Somalia ländliche Dörfer sind. Doch man darf nicht vergessen, dass die Flüchtlinge mittlerweile zu Stadtmenschen geworden sind. Das sind keine Bauern mehr, sie haben ja auch kein Vieh, kein Land und keine landwirtschaftlichen Kenntnisse.
Was wird oder würde bei Zwangsräumung passieren?
Dann würden die Leute sicherlich zurückkommen. Oder, was natürlich die Europäer besonders fürchten, in dritte Länder flüchten.
Was sagen die Flüchtlinge nach
Ihrer Erfahrung? Wie viele würden in ein Drittland wie Österreich, Deutschland oder Schweden gehen, wenn es irgendwie möglich wäre?
100 Prozent.
Wird Ihre Organisation "Ärzte ohne Grenzen" das Lager weiterhin betreuen.
Ja sicherlich, wir machen hier "business as usual" - wir werden ja auch sehr gebraucht hier. Und wir rechnen damit, dass das noch längere Zeit so bleiben wird. Übrigens gibt es ja auch viele Arbeitsplätze in und um die Lager wie Fahrer oder Sicherheitsdienste und Ähnliches. Würde man das Lager wirklich schließen, hätten die alle ein Problem.
Liesbeth Aelbrecht ist Leiterin der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in Kenia. Zuvor war sie unter anderem als Landeskoordinatorin in Myanmar tätig.