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Sieben Jahre lang muss des Toten gedacht werden, sonst kommt er wieder.
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Wien. Für den Einheimischen ist kein Unterschied zu bemerken zwischen Nesa, Ruza, Viktoria und Ivica Tipolic und ihren Landsleuten aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie stammen aus Serbien. Sprechen Serbisch. Kredenzen dem Gast türkischen Kaffee, Kekse, Salami und Feta-Käse - ganz wie man es aus der ex-jugoslawischen Bewirtungskultur kennt. Doch der Schein trügt, gibt die vierköpfige Familie verschmitzt zu verstehen: "Wir sind Vlachen", posaunen sie einstimmig. In ihrem Domizil in der Ottakringer Huberstraße klären sie die "Wiener Zeitung" über ihre Volksgruppe auf. Es ist eine Welt voller Mythen, Riten und einem eigenwilligen Totenkult.
Keine Rumänen
"Wir sind wie Indianer", sagt Ivica. Stolz klopft sich der 21-jährige Installateur auf die Brust. Vlachen - auch genannt Walachen - sind eine romanischsprachige Volksgruppe in Südosteuropa. Die Hauptgruppen der Walachen werden als Rumänen, Arumunen, Meglenwalachen und Istrienwalachen bezeichnet.
Familie Tipolic stammt aus Serbien, aus einem kleinen Dorf in der südostserbischen Provinz in der Nähe der Stadt Bor. Serbisch sprechen sie nicht fließend, zu Hause wurde immer Walachisch gesprochen. "Es ist eine romanische Sprache, aber kein Rumänisch", erklärt Ivica. "Darum werden wir immer Rumänen genannt." Für Rumänen klingt Walachisch wie eine urige Version ihrer Muttersprache.
"Wir sind keine Rumänen", versucht auch Ivicas Vater Nasa klarzustellen. Tatsächlich seien die Walachen autochthone Serben, meint er "Sie waren sozusagen noch vor den Serben auf dem aktuellen Gebiet", erzählt er.
Viele Wissenschafter haben sich der Erforschung der Herkunft des walachischen Volkes angenommen und sind noch zu keinem eindeutigen Schluss gekommen. Eine These besagt, dass die Walachen von den "Dakorumänen" abstammen, also Vorfahren der heutigen Rumänen aus Rumänien. Ein Teil diese Dakorumänen wanderte vor einigen Hundert Jahren in das Gebiet des heutigen Serbiens aus. Somit waren Walachen vor den Serben in Serbien. Als die Serben das Gebiet übernahmen, blieben die Walachen in ihren Dörfern und wohnen zum Teil dort noch bis heute.
Was unterscheidet denn nun einen echten Walachen von einem Serben? Nesa überlegt: "Die Vlasi sind alle eine Spur kleiner im Durchschnitt als die Serben. Es gibt Rothaarige, Blonde, Dunkle, Bleiche, alles!", sagt der dunkelhäutige Nesa während er seine Frau anlächelt. Im Gegensatz zu ihm ist sie regelrecht blass.
Leicht zu haben
Außerdem gilt die Volksgruppe im ex-jugoslawischen Volksmund als gesellig, temperamentvoll und hat ihren ganz eigenen Humor. So gibt Viktoria, die 26-jährige Tochter der Familie, eine kleine Kostprobe: "Wann liegt eine Vlajna zum ersten Mal alleine flach auf dem Rücken?" Grinsend wartet sie auf die Reaktion: "Im Grab!"
Walachinnen müssen oft mit diesem Vorurteil kämpfen. Feurig, lüstern und "leicht zu haben" seien sie angeblich. Das "heiße Blut", wie es Mutter Ruza ausdrückt, "ist ein Merkmal der Vlasi. Sie tanzen, singen und sind voller Leidenschaft." Für die 58-Jährige ist das sexistische Stereotyp "ein Blödsinn. Wer macht denn schon nicht gerne Liebe?", sagt die rundliche Hausfrau und lacht.
Wofür die Walachen ebenfalls bekannt sind, ist ihr Totenkult. So sagt man auf dem Balkan: "Keiner verehrt seine Toten in Jugoslawien so sehr wie die Vlasi." Wenn ein Familienmitglied stirbt, setzen sich die engsten weiblichen Verwandten vor das Haus des Verstorbenen und beklagen sein Ableben mit Liedern. Danach wird bei jedem feierlichen Essen ein Teil des Tisches den Toten zuerkannt. Sieben Jahre lang wird des Verwandten an seinem Todestag gedacht. Denn tut man das nicht, kommt sein Geist unter Umstände wieder, weil er sich darüber ärgert, dass man ihn vergessen hat.
Aberglaube steht bei den Walachen hoch im Kurs. "Wir glauben an Geister und wir glauben auch an Flüche", erzählt Nesa und blickt seinem Gesprächspartner ernst an. Tatsächlich erklären sich viele Walachen die Ursache eines Unglücksfalls mit einem Fluch. "Meine Mutter sagt immer, mich hat jemand verflucht, wenn eine meiner Beziehungen zu Ende geht", sagt Viktoria im halbernsten Ton. Niemand lacht. Das religiöse Pendant zu diesen Flüchen bietet der orthodoxe Glauben, dem viele Walachen angehören.
Regelmäßig werden die Priester aus den serbisch-orthodoxen Kirchen bestellt, um "die Räume zu säubern". Dabei segnet der Geistliche das Heim mit Weihrauch und Gebeten. "Jeder hat Respekt vor solchen Flüchen in Ex-Jugoslawien", erklärt Nesa, "niemand gibt es zu, aber viele Jugos haben Angst davor, verflucht zu werden."