Der ungarische Außenminister Szijjártó über Migration, die Kritik an seinem Land und den Luxus von Offenheit.
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"Wiener Zeitung":Sie sprechen von "Heuchelei" und "politischer Korrektheit", unter denen die EU-Debatte über Migrationspolitik leide. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet gerade über die Klagen Ungarns und der Slowakei gegen einen EU-Beschluss zur Umverteilung von Asylwerbern. Schon im Vorfeld zeichnete sich ab, dass die Richter dies zurückweisen würden. Ist das ebenfalls heuchlerisch?
Péter Szijjártó: Die Abweisung ist keine Überraschung, weil schon der Gutachter des Gerichts dies empfohlen hatte. Um aber auf die Heuchelei zurückzukommen: Als wir vor zwei Jahren über die Sicherheitsrisiken von illegaler Migration und die Notwendigkeit, die Union davor zu schützen, gesprochen hatten, wurden wir als Nazis und Faschisten beschimpft - unter anderem vom damaligen österreichischen Bundeskanzler (Werner Faymann). Das war, als Ungarn einen Grenzzaun baute. Als die österreichische Regierung später dasselbe an der Grenze zu Slowenien begann, sprach sie von einem "Türl mit Seitenteilen". Die Kontrollen sind noch aufrecht. Das meine ich mit Heuchelei.
Österreich hat aber nicht wie Ungarn die EU dazu aufgefordert, für die Maßnahmen zu zahlen.
Wir haben bisher mehr als 800 Millionen Euro für Grenzschutz aufgebracht - für Infrastruktur, Personal, Ausbildung. Wir haben langsam genug vom Gerede über Solidarität, darüber, dass es keine Rosinenpickerei geben dürfe und jedes Land Flüchtlinge aufnehmen müsse. Warum fällt Grenzschutz nicht unter die Kategorie der Solidarität? Ist das nicht auch Rosinenpickerei? Sind wir nicht auch solidarisch, wenn wir Beamte zur Unterstützung der Slowenen und Bulgaren schicken? Indem wir die Außengrenze schützen, schützen wir die gesamte EU.
Würden Sie auch Beamte zu Einsätzen im Mittelmeer schicken?
Selbstverständlich. Wir sind bereit, unseren Beitrag zu leisten. Wir sagen schon seit langer Zeit, dass wir eine Einsatztruppe brauchen, die die Meeresgrenze sichern kann. Wir wissen, dass es kompliziert ist, aber das bedeutet nicht, dass es unmöglich ist. In den letzten zwei Jahren hätten wir daran arbeiten sollen, anstatt über Quoten zur Flüchtlingsverteilung zu reden.
Dennoch soll der EuGH den Beschluss dazu bestätigen. Was werden Sie tun?
Das Urteil betrifft nicht die Quoten selbst, sondern das Zustandekommen der Ministerentscheidung. Es wurde überprüft, ob diese den EU-Regeln entsprechend gefällt wurde. Wir haben die EuGH-Sprüche immer respektiert. Doch wir werden das Urteil zunächst analysieren. Und ich kann absolut nicht ausschließen, dass wir weitere juristische Schritte setzen.
Welche können das sein?
Lassen Sie uns erst einmal das Urteil in Ruhe lesen und analysieren.
In der Debatte um Flüchtlinge sind auf beiden Seiten scharfe Worte gefallen - bis hin zu Drohungen der Westeuropäer, den Ost- und Mitteleuropäern Finanzmittel zu entziehen. Wie können die Gräben wieder überwunden werden?
Die Stärke der Europäischen Union liegt in ihrer Einheit. Diese sollte bewahrt werden. Daher können wir die Drohungen und Erpressungsversuche mit EU-Geld nicht mehr hören. Als wir der EU beigetreten sind, war die Abmachung: Wir öffnen unseren Markt und bekommen Finanzmittel. Als wir uns geöffnet haben, haben viele österreichische, deutsche, französische und andere Unternehmen enorme Profite daraus gezogen. EU-Förderungen sind keine humanitäre Hilfe. Sie fließen nach Ungarn und in andere Länder auf der Basis von Verträgen, und ausländische Firmen genießen auch die Vorteile davon.
Es gab in Budapest aber auch schon Bemühungen, den ungarischen Markt stärker zu schützen und heimische Unternehmen zu bevorzugen.
Wir sind ein kleiner Markt und von Außenbeziehungen abhängig. Wir sind exportorientiert und haben ausländische Direktinvestitionen im Ausmaß von 85 Milliarden Euro angezogen. Wir sind an freiem Handel interessiert. Auch deswegen machen wir uns Sorgen um die Zukunft der Schengenzone. Denn der Personen- und Warenverkehr ohne Kontrollen macht den Kern des wirtschaftlichen Erfolges der Union aus. Für die Unternehmen müssen Lieferzeiten genau berechenbar sein - und mit Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraumes wird der europäischen Wirtschaft Schaden zugefügt.
Deutschland und Frankreich wälzen Pläne zur Stärkung der Eurozone. Sehen Sie die Gefahr, dass andere Länder, vor allem in Ost- und Mitteleuropa, abgehängt werden?
Es ist kein Wunder, wenn die zwei Länder, die nach dem EU-Austritt Großbritanniens die zwei größten Volkswirtschaften bilden werden, verstärkt zusammenarbeiten. Doch haben wir bereits klargemacht, dass jede Vertiefung der Union, jede Gruppenbildung nicht dazu führen darf, dass jene, die sich nicht in dieser Gruppe befinden, schlechtergestellt sind. Wir haben Interesse daran, dass die Eurozone erfolgreich ist; ein Großteil unserer Exporte geht dorthin. Und das Handelsvolumen zwischen Deutschland und den Visegrád-Ländern ist um 55 Prozent höher als jenes zwischen Deutschland und Frankreich. Doch eine Vertiefung des Euroraums darf nicht dazu führen, dass Nicht-Euromitglieder Nachteile haben.
Frankreich jedoch will vielmehr mögliche Nachteile für die heimische Wirtschaft ausräumen. Es möchte die Regelungen zur Entsendung von Arbeitern ändern, um billigere Konkurrenz aus Mittel- und Osteuropa zu verhindern. Österreich und Deutschland unterstützen dies. Tschechien und die Slowakei haben auch schon Sympathie signalisiert. Die zwei bilden gemeinsam mit Ungarn und Polen die Visegrád-Gruppe. Bröckelt deren Einheit?
Die Slowakei und Tschechien versichern, dass sie an einem Kompromiss interessiert seien - aber an einem, der gemeinsam mit der Visegrád-Gruppe getroffen wird. Es hat viele Versuche gegeben, die Einheit der vier zu brechen, aber das ist bis jetzt nicht gelungen.
Ungarn würde sich hinter Polen stellen, wo die EU-Kommission die Rechtsstaatlichkeit in Gefahr sieht?
Wir würden Sanktionen gegen Polen auf jeden Fall blockieren. Wir würden ein Veto dagegen einlegen. Denn auch dort werden doppelte Standards angewendet - wie in Ungarn. Wenn Griechenland einen Grenzzaun baut, dann ist das in Ordnung. Wenn wir das tun, nicht. Manche Politiker in Deutschland und anderen Staaten zeichnen ein Bild von Ungarn, als ob es das schlimmste Land der Erde wäre, eine Diktatur und so weiter. Aber deutsche Investoren in Ungarn sehen das anders: Laut einer Umfrage würden 80 Prozent von ihnen wieder hier tätig werden. Sie kennen die Realität in Ungarn, weil sie dort leben.
Trotzdem werden die Ungarn als die bösen Buben in Europa betrachtet...
Es gibt in Europa viele Debatten, und das ist natürlich. Doch die, die anderen das Recht auf diese Debatten nehmen wollen, sind die Anti-Demokraten. Das lässt sich an einer Diskussion besonders gut ablesen - und da sind wir wieder bei Migration. Es gibt Regierungen, die für Einwanderung sind und welche, die sagen, dass Migration keine Lösung, sondern ein Sicherheitsrisiko darstellt.
Welche EU-Regierungen sprechen sich denn dezidiert für Einwanderung aus? Mir fallen nur welche ein, die sich damit abfinden und irgendwie damit umgehen wollen.
Das nenne ich pro Migration. Es hat schon im Jahr 2010, 2011 in der Europäischen Volkspartei, in unserer Parteienfamilie, Diskussionen darüber gegeben, ob Einwanderung eine Antwort auf Herausforderungen auf den Arbeitsmärkten und die demografische Entwicklung sein kann oder nicht. Etliche haben gemeint: Ja. Und wir haben dann gesagt: Keineswegs. Solange wir Arbeitslosigkeit in Europa haben, sollten wir bestehende Reserven nutzen. Und wenn wir ein demografisches Problem haben, sollten wir eine Politik mit Anreizen für Familien schaffen. Unser Ansatz ist nun einmal, dass wir Europa schützen müssen und Migration auch als Gefahr ansehen.
Vielleicht kostet Sie unter anderem genau dieser Ansatz Sympathien in Europa?
Viele meiner Amtskollegen sagen mir, dass sie mich darum beneiden, offen sprechen zu können. Vor kurzem gab es eine Ministerdebatte, bei der es laut zuging. Und manche Kollegen haben mir währenddessen zustimmende SMS geschickt. Aber sie hätten auch den Mikrofonknopf vor sich drücken und dies im Forum sagen können. Wir haben den Luxus, ehrlich zu sein, weil wir zu Hause eine stabile Mehrheit im Parlament und Unterstützung innerhalb der Bevölkerung haben.
Péter Szijjártó ist seit drei Jahren Ungarns Außenminister. Der Ökonom trat 1998 der
jetzigen Regierungspartei Fidesz bei. 2004 wurde der heute 38-Jährige Sprecher der konservativen Fraktion und 2010 von Ministerpräsident Viktor Orbán. Szijjártó war Gast beim Strategie-Forum in der slowenischen Stadt Bled.