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"Wir haben eine völlig neue Politik"

Von Stefan Janny

Reflexionen
IHS-Chef Felder: "Bei Keynes lesen Sie nichts von staatlichen Garantien." Foto: Newald

Im März kommt starke Revision der Konjunkturprognose nach unten. | Tiefpunkt des Abschwungs noch nicht absehbar. | "Wiener Zeitung": Ich nehme an, dass die Stimmung eines Ökonomen derzeit nicht allzu ausgelassen ist? | Bernhard Felderer: Das stimmt. Eine derart gravierende Revision der Konjunkturprognosen, wie sie im vergangenen Jahr notwendig war, haben wir noch nie erlebt.


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Eine solche Verschlechterung in so kurzer Zeit ist nur durch das Zusammenspiel der Krise an den Finanzmärkten mit der Realwirtschaft erklärbar. Selbst ein sehr starker Konjunktureinbruch in der Realwirtschaft alleine hätte nie einen so raschen Absturz verursacht, wenn er von einem ruhigen Finanzsektor begleitet worden wäre. Erst die Kombination mit dem Vertrauensverlust nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers verursachte den radikalen Rückgang der Investitionen.

Vor der Lehman-Brothers-Insolvenz war es ein normaler Konjunkturabschwung?

Nein, es war auch zu dieser Zeit schon mehr als ein normaler Abschwung, denn die Finanzkrise war ja schon spürbar. Der Geldmarkt, auf dem sich Banken untereinander mit Liquidität versorgen, hat schon damals nicht mehr richtig funktioniert. Aber nach dem Lehman-Brothers-Zusammenbruch hat sich das noch erheblich verschärft. Im vierten Quartal 2008 hat es dann so richtig auf die Industrieproduktion durchgeschlagen: mit der Rücknahme von Bestellungen, mit sinkenden Aufträgen, mit Stornierungen. Und auch im ersten Quartal des laufenden Jahres wird das Wirkung zeigen. Das ist ein weltweites Phänomen.

Kann eine der Ursachen für diesen abrupten Rückgang unter anderem die so genannte Just-in-Time-Produktion sein, wo niemand mehr auf Lager produziert?

Die Vorlieferanten, die Zulieferer kriegen das Fett heute sofort ab. Zum Teil ist es sogar so, dass die Vorlieferanten stärker betroffen sind als der Hauptlieferant, weil der seinen Lagerbestand abbauen will. Das ist in der Autoindustrie zum Beispiel so gewesen. Insgesamt ist es so, dass die Investitionsgüterindustrie deutlich stärker betroffen ist als die Hersteller von Konsumgütern oder Nahrungsmitteln. Die Nahrungsmittelindustrie verzeichnet etwa bisher kaum einen Rückgang.

Nahrungsmittel sind grundsätzlich nicht wahnsinnig teuer und essen müssen die Leute weiterhin.

Der Kauf von langlebigen Konsumgütern ist aufschiebbar. Man muss das Auto nicht sofort kaufen. Bei Investitionsgütern ist es noch schwieriger. Die Produkte sind in der Regel recht teuer, müssen sich durch entsprechende Auslastung über mehrere Jahre amortisieren und verursachen für den Käufer bilanziell jährliche Abschreibungen. Daher wird ihr Kauf derzeit vielfach aufgeschoben.

Zudem sind zum Kauf von Investitionsgütern meist auch entsprechende Finanzierungen notwendig.

Diese Finanzierungen sind, um es vorsichtig auszudrücken, sehr schwierig geworden. Schon vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers haben Banken ihre Risikoprüfungen für langfristige Finanzierungen verstärkt, danach hat sich das noch deutlich verschärft und auch auf Klein- und Mittelunternehmen ausgedehnt. Wobei es etwas leichter ist, wenn ein Unternehmen eine Hausbank hat, die das Unternehmen genau kennt. Großunternehmen haben ihre Finanzierungen aber üblicherweise auf mehrere Banken verteilt. Für die ist es nun viel schwieriger geworden. Insbesondere für Unternehmen in zyklischen Branchen, wie der Stahlerzeugung oder dem Maschinenbau, die nun besonders unter Druck sind. Aber natürlich wird auch der Tag kommen, an dem all diese Investitionsgüter wieder dringend gebraucht werden.

Das hoffen jedenfalls die betroffenen Industrieunternehmen.

Nein, das ist sicher! Denn wir können ja ohne diese Maschinen auch keine Konsumgüter oder Lebensmittel herstellen. Aber wann genau das sein wird, ist derzeit schwierig zu prognostizieren. Wir haben jetzt einen scharfen Abschwung, bei dem die Finanzkrise wirklich gezeigt hat, was sie kann: nämlich die Stimmung in kurzer Zeit in den Boden zu schlagen. Leider haben alle mitgemacht, die Medien, die Wirtschaftsforscher, alle haben "self-fulfilling prophecies" produziert.

Sie kritisieren Ihr eigenes Gewerbe dafür, selbsterfüllende negative Prognosen aufgestellt zu haben. Ihr Kollege, Wifo-Chef Karl Aiginger, äußerte sich im Gegensatz dazu kürzlich recht optimistisch, dass schon zur Jahresmitte der Tiefpunkt des Abschwungs erreicht sein könnte. Realistische Einschätzung oder Positivpropaganda?

Der allgemeine Konsens ist, und das schließt die Weltbank und die OECD ein, dass wir einen scharfen Abschwung erleben, der sich aber an irgendeinem Punkt, von dem wir allerdings nicht wissen, wo er ist, stabilisieren wird. Das ist logisch nicht anders möglich, denn wenn sich die Industrieproduktion entsprechend stark reduziert hat, ist irgendwann kein Minus mehr möglich, weil es eine Produktion in einem gewissen Ausmaß geben muss. Die nächste Frage ist dann, wie lange diese Bodenbildung dauert und wann es wieder aufwärts geht. Das kann ein halbes Jahr dauern, aber es können auch zwei Jahre sein, das weiß niemand so genau.

Wie stark wird das österreichische Bruttoinlandsprodukt dieses Jahr schrumpfen?

Wir glauben, dass unsere Prognose, die wir zum vorgesehenen Termin im März veröffentlichen werden, eine starke Revision nach unten aufweisen wird. Wir diskutieren das derzeit natürlich intensiv, wollen aber nicht alle 14 Tage eine neue Prognose bekanntgeben, sondern werden das wie vorgesehen tun. Für das vierte Quartal 2008 haben wir vorerst nur eine Schnellschätzung, in der noch viele Informationen fehlen. In einigen Tagen werden wir über ausführlichere Daten verfügen, dann wird einiges deutlicher werden. Jene Informationen, die wir etwa über die Entwicklung am Arbeitsmarkt im ersten Quartal haben, deuten jedenfalls nicht darauf hin, dass der Rückgang schon gestoppt wäre.

Der Arbeitsmarkt hinkt in seiner Entwicklung allerdings der Wirtschaftsleistung immer etwas hinterher.

Die wirklichen Zuwächse bei der Arbeitslosigkeit werden wir erst später im Jahr 2009 sehen. In welchem Umfang, ist schwierig zu sagen. Es ist jedenfalls klar, dass die Arbeitslosigkeit im produzierenden Gewerbe entsteht, vor allem in der Industrie. Wenn sich das dann in einer Art Multiplikatoreffekt auf andere Wirtschaftsbereiche ausgeweitet hat, wird auch in anderen Bereichen Arbeitslosigkeit entstehen.

Wie effizient oder ineffizient werden die diversen Konjunkturprogramme sein?

Es wird sehr auf den spezifischen Ansatz eines Konjunkturprogramms ankommen. Ein klassischer Ansatz wäre die Stützung der Bauindustrie. Das würde bei uns im Moment aber nicht funktionieren, denn die Bauwirtschaft ist im Tiefbau noch weitgehend vollbeschäftigt. Im Moment ist es aus Konjunkturbelebungssicht noch zu früh, aber der Zeitpunkt, dass die Bauwirtschaft zusätzliche Nachfrage brauchen kann, wird ziemlich sicher kommen, möglicherweise schon im Lauf dieses Jahres.

Sie befürworten also grundsätzlich klassische keynesianische Konjunkturpolitik?

Ist diese Politik keynesianisch? Der Grundgedanke der keynesianischen Theorie ist, dass fehlende private Nachfrage durch staatliche ergänzt wird und damit die Vollbeschäftigung erhalten werden kann. Die beiden österreichischen Konjunkturprogramme, einschließlich die Steuerreform und das Bankenpaket, enthalten zwar keynesianische Elemente, der Schwerpunkt der Politik liegt aber bei Garantien des Staates. Das 100-Milliarden-Paket für die Banken erhöht die Nachfrage kaum, schafft aber Vertrauen und kostet voraussichtlich relativ wenig.

Weil es erst jetzt wirklich in Anspruch genommen wird.

Diese Art von Hilfe, dass der Staat Garantien übernimmt, um fehlendes Vertrauen zu ersetzen, ist eine völlig neue Politik. Das ist etwas gänzlich anderes als in der keynesianische Theorie, denn die Ergänzung der privaten durch staatliche Nachfrage würde nicht mehr funktionieren. Denn der Staat kann die Nachfrage einfach nicht kompensieren. Er müsste die Maschinen der Maschinenbauer kaufen, er müsste den Stahl der Stahlwerke kaufen und so weiter. Das kann er nicht. Nach keynesianischer Terminologie würde die gegenwärtige Situation als eine "Investitionsfalle" bezeichnet werden müssen, das heißt, Investitionen reagieren nicht mehr auf Zinssenkungen. Die dort empfohlene Erhöhung der staatlichen Nachfrage könnte das Problem allerdings nicht lösen. Und ein Multiplikator, der von der Bauwirtschaft ausgehen könnte, scheidet zur Zeit wegen der guten Auftragslage in dieser Sparte ebenfalls aus.

Also erleben wir heute einen neuartigen Keynesianismus mittels Garantien?

Bei Keynes lesen Sie nichts von staatlichen Garantien. Es ist eine intelligente Form der Hilfe, eine neue und vergleichsweise das Budget schonende Form staatlicher Intervention. Die Bankkrise scheint sich durch diese Garantien jedenfalls zu beruhigen.

Dass es sich um staatliche Intervention handelt, die das Wirtschaftsgeschehen gewolltermaßen verzerrt, wenn etwa marode Autokonzerne, die mit viel zu hohen Produktionskosten Fahrzeuge produzieren, die keiner kaufen will, steht aber außer Zweifel?

Dass eine punktuelle Hilfe eine staatliche Intervention ist, die den Wettbewerb verzerrt, steht völlig außer Zweifel. Dass wirtschaftliches Versagen vom Markt nicht mehr bestraft werden kann, weil der Staat interveniert, kann natürlich nicht Sinn der Sache sein. Aber Garantien sind eine neue Form staatlicher Intervention, die man nicht als Keynesianismus bezeichnen kann, über deren Auswirkungen man erst nachdenken muss. Auch, warum diese Rolle des Staates als Garantiegeber nicht schon früher diskutiert und analysiert wurde.

Zur PersonBernhard Felderer wurde am 21. 3. 1941 geboren und studierte nach der Matura Volks- sowie Rechtswissenschaft an der Universität Wien, wo er 1964 promovierte. Die folgenden zwei Jahre studierte der Kärntner an der Universität Paris. In der Folge war er vorerst als Forschungsassistent an der Princeton University und danach als Gastprofessor an der University of North Carolina tätig. Von 1968 bis 1974 fungierte er als Assistent am Institut für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung der Universität Karlsruhe. 1974 wurde der Habilitierte als Professor an die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln berufen. 1991 wurde ihm die Leitung des Instituts für Höhere Studien (IHS) in Wien übertragen und im selben Jahr übernahm er einen Lehrauftrag an der Ruhr-Universität Bochum. Neben seiner Tätigkeit als IHS-Direktor fungiert Felderer unter anderem als Generalrat der Oesterreichischen Nationalbank sowie als Präsident des Staatsschuldenausschusses der Republik.