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"Wir haben Krieg – deswegen ist alles anders"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner aus Kiew

Politik

Parlamentswahlen in angespannter Atmosphäre - erste Prognosen sehen klaren Sieg proeuropäischer Kräfte.


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Kiew. Ersten Prognosen zufolge haben die proeuropäischen Kräfte um Präsident Petro Poroschenko Prognosen einen klaren Sieg errungen, wie der private ukrainische Fernsehsender Ukraina am Sonntag berichtete. Der Block Poroschenkos erhielt den Nachwahlbefragungen zufolge 23 Prozent der Stimmen, die nationalistische Volksfront von Ministerpräsident Arseni Jazenjuk kam demnach auf 21 Prozent. Die prorussische Partei von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch schaffte es demnach mit fast acht Prozent ebenfalls ins Parlament.

Doch die erste, die sich am Wahlsonntag im Blitzlichtgewitter sonnen durfte, war Marina Poroschenko: Um zehn Uhr Vormittag hatten sich Journalisten auf der ganzen Breitseite des Wahllokals im Kiewer Zentrum postiert, um den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko bei seiner Stimmabgabe zu filmen. Der kam aber nicht. Vorerst: "Mein Mann ist derzeit in der Kampfzone. Aber er wird noch abstimmen", vertröstete die First Lady Marina Poroschenko die wartenden Journalisten. "Gerade in Donbass eingetroffen", twitterte dieser später mit einem Foto aus dem Militärhubschrauber. Poroschenko kam dann wirklich – allerdings mit fast fünf Stunden Verspätung. "Ich habe für die Zukunft, für den europäischen Weg und einen politischen Neustart gestimmt", sagte er nach seiner Stimmabgabe.

Dass der Präsident recht spontan den Anzug gegen die Unifrom getauscht hatte, mag ein geschickter PR-Trick sein. Er zeigt aber auch, unter welcher angespannten und außergewöhnlichen Situation die Wahlen am Sonntag in der Ukraine stattfanden.

"Mama hat  noch nie gewählt"

"Wir haben Krieg – und deswegen ist jetzt alles anders", sagt die Pädagogin Liliana. Die Frau mit den blonden Locken hält ihre Mutter im Arm. Beide sind in dicke Pelzmäntel gehüllt – es ist ein bitterkalter Morgen weit unter Null Grad Celsius, die Mützen haben sie tief ins Gesicht gezogen. "Wir wissen, dass diese Wahl richtungsweisend ist. Wir müssen alles tun, damit sich in unserem Land endlich etwas positiv verändert", sagt Liliana. Sie deutet auf ihre Mutter. "Deswegen ist auch Mama zur Wahl gegangen – Sie müssen wissen, Mama hat zuvor noch nie gewählt."

Vor allem in der Ostukraine blieb das allerdings vielen verwehrt. In den Gebieten Luhansk und Donezk konnten viele Wahllokale nicht geöffnet werden. Auf der von Russland annektierten Krim war es ohnehin unmöglich, zu wählen. Im Osten des Landes wurde sogar unter Lebensgefahr gewählt: In Donezk sei auf Personen geschossen worden, als sie ihre Stimme abgeben wollten, berichtete das ukrainische Wahlkommission und die NGO Opora.

700 OSZE-Wahlbeobachter im Einsatz

Wie außergewöhnlich diese Mission für ihn ist, betont auch auch Kent Härstedt, Koordinator der OSZE-Wahlbeobachter in der Ukraine. "Wir haben schon viele Missionen durchgeführt – aber diese Wahl ist sicher auch für uns eine der größten Herausforderungen." 700 Wahlbeobachter der OSZE seien landesweit im Einsatz. "Es ist auch das erste Mal, dass wir Wahlbeobachter ins Ausland geschickt haben – nämlich nach Moskau", so Härstedt in einem Kiewer Wahllokal. Sie beobachten den Wahlvorgang in der ukrainischen Botschaft.

Nicht nur der Krieg im Osten, sondern auch die zahlreichen Binnenflüchtlinge stellten die Organisatoren vor eine große Aufgabe. Laut UNO-Zahlen sollen bereits mehr als 800.000 Menschen aus den umkämpften Gebieten und von der Halbinsel Krim geflohen sein, 425.000 davon sind Binnenflüchtlinge in der Ukraine. "Bisher haben die Flüchtlinge sehr aktiv an der Wahl teilgenommen", sagt Ruslana, Wahlleiterin im Kiewer Ortsteil Puscha-Wodiza im Nordwesten Kiews.

Um 12 Uhr hätten bereits 30 von den 50 wahlberechtigten Binnenflüchtlingen, die im Sanatorium nebenan untergebracht sind, ihre Stimme abgeben. So auch Wladimir, ein Mittzwanziger von der Krim. "Ich habe diesmal für den Rechten Sektor gestimmt." Warum? "Wenn wir die Ostukraine wieder befreit haben, werden wir auch die Krim befreien – und mit dem Rechten Sektor schaffen wir das", so Wladimir.

"Ukraine soll endlich demokratisch und europäisch werden"

Mit den aggressiv-nationalistischen Parolen des Rechten Sektor kann freilich nicht jeder etwas anfangen. "Ich bin für die Ideale des Maidan – und habe deswegen die Partei Samopomitsch gewählt", sagt Anton, ein junger Arzt aus dem Kiewer Wohnbezirk Obolon. Samopomitsch ist die Partei des Lwiwer Bürgermeisters Andrij Sadowij, auf seiner Liste kandidieren viele Polit-Newcomer und Aktivisten des Maidan. "Nur eine ganz neue Generation kann die richtigen Entscheidungen treffen", ist Anton überzeugt. Natalja sieht das anders: "Premier Jazeniuk hat eine gute Arbeit gemacht – deswegen habe ich seine neue Partei Volksfront gewählt", sagt die rüstige Pensionistin mit dem bunten Kopftuch und glänzenden Goldzähnen. "Ich hoffe, dass Poroschenko und er nach den Wahlen weiter zusammen arbeiten werden." "Ich bin dafür, dass die Ukraine endlich demokratisch und europäisch wird", sagt die Journalistin Anna. "Aber es ist nicht gut, wenn die gesamte Macht bei Poroschenko (und seinem Block Poroschenko, Anm.) liegt. Deswegen wähle ich die Volksfront."

Mit den Wahlen kann aber längst nicht jeder etwas anfangen. "Ich wähle nicht – was bringt das schon?" fragt Alexej, ein junger Taxifahrer aus Kiew. "Seit dem Maidan ist alles teurer geworden – Benzin, Brot, sogar die Schmiergelder bei der Verkehrspolizei sind jetzt doppelt so hoch. Da können mir die Wahlen gestohlen bleiben."