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"Wir haben wenig soziale Kontakte"

Von Stefan Beig und Richard Solder

Politik

25.000 Tschetschenen leben in Österreich. | Im Gegensatz zu anderen Communitys sind sie noch kaum organisiert. | Wien.Die tschetschenischen Teilnehmer beim Bewerbungstraining für nicht-österreichische Staatsbürger kann Elisabeth Kollmann nicht so schnell vergessen. "Insgesamt habe ich vier Tschetschenen in mehreren Kursen unterrichtet. Während sich unter den anderen Besuchern - ob Afghanen, Ägyptern oder Slowaken - schnell sozialer Austausch entwickelte, sonderten sich alle Tschetschenen ab und hatten keinen Kontakt mit anderen." Kollmann ist Coach und hat 2009 beim Arbeitsmarktservice Ausländer für den Berufseinstieg trainiert. Überdeutlich waren für sie die schweren Traumata der Tschetschenen.


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"Sie hatten großes Leid erfahren, das sie nicht einmal in Worte fassen konnten", so Kollmann. "Bei einem gewissen Ausmaß an Leid gibt es einen Schutzmechanismus in der Psyche, der das Erlebte in das Unterbewusstsein drängt. Dennoch bestimmt es weiter das Verhalten, etwa wenn man Situationen ausgesetzt ist, die einen an das Erlebte intuitiv erinnern. Um solche Traumata zu behandeln, muss man erst einen Zugang zu den Erfahrungen finden."

Die Tschetschenen sind seit Jahren die größte Gruppe an Asylwerbern in Österreich. Offiziell leben hier zurzeit etwa 25.000 Tschetschenen, von denen die Hälfte noch in laufenden Asylverfahren steckt. Anhaltende Verhaftungen und Folter treiben viele in die Flucht. "In Tschetschenien herrscht eine brutale Diktatur Ramsan Achmatowitsch Kadyrows, eines Diktators von Moskau", berichtet der Politikwissenschafter Thomas Schmidinger. "Todesschwadronen der pro-russischen Regierung sorgen für Schrecken, Personen verschwinden spurlos. In Moskau gelten Tschetschenen als Terroristen. Tschetschenen haben keine innerstaatliche Fluchtalternative. Die Fluchtmigration reißt nicht ab."

Schmidinger hat gemeinsam mit Herwig Schinnerl das Buch "Dem Krieg entkommen?" herausgebracht, das erstmals einen Einblick in die für viele noch immer verschlossene Lebenswelt der Tschetschenen verschafft. Die Unkenntnis schafft auch Raum für Vorurteile. "Wir haben wenig soziale Kontakte zu anderen Communitys und zu Österreich", klagt Laziz Vagazr, der ebenfalls nach Österreich geflohen ist und in Volksschulen zurzeit muttersprachlichen Unterricht für Tschetschenen gibt sowie als Englischlehrer in einer Hauptschule arbeitet. "Unser Image in der Öffentlichkeit ist leider schlecht. Wir würden gerne mit der Öffentlichkeit reden. Rund 10.000 Tschetschenen leben in Wien. Sie sind nicht organisiert, nicht sichtbar."

Kein Kontakt zu Eltern

Im 20. Wiener Gemeindebezirk gibt es die bis jetzt einzige tschetschenische Moschee, darüber hinaus einen Kulturverein in Linz und die "Gesellschaft für Freundschaft der Völker" in St. Pölten. "Das Netz solcher lokaler Kulturvereine ist jedoch noch bei weitem nicht so dicht wie in anderen Migranten-Communitys", meint Schmidinger.

Vagazr engagiert sich seit Jahren in Menschenrechts- und humanitären Organisationen. Obwohl er schon vor seiner Flucht in aller Welt vernetzt war, beschreibt er den Verlust der Heimat als Katastrophe. "Für Tschetschenen ist es - anders als für Amerikaner und Europäer - eine unbeschreibliche Tragödie, die Heimat verlassen zu müssen. Es ist, als wäre dein bisheriges Leben tot. Du kannst nicht einmal mehr deine Eltern sehen. Ich bin 44 Jahre alt, und ich kenne ansonsten niemanden, der es geschafft hat, ein normales Leben hier aufzubauen. Fast alle arbeiten in völlig unterqualifizierten Berufen, auch Akademiker. Meine Frau war früher Uni-Professorin für Russisch. Hier arbeitete sie zunächst als Putzfrau."

Vagazrs Kinder sind gute Schüler. Manche Tschetschenen konnten sich bereits in Österreich einleben. Im beschaulichen 2000-Seelenort Hellmonsödt im Mühlviertel, 30 Autominuten von Linz entfernt, teilen sich etwa Zelim und Yusup eine Wohngemeinschaft. Zelim gefällt es auf dem oberösterreichischen Land, er weiß aber, dass er vielleicht nicht ewig hier bleiben kann. Im Moment wartet der 24-Jährige auf seinen Asylbescheid. In Hellmonsödt wohnen die Zwei billig: "Es geht sich mit der Wohnbeihilfe knapp aus", sagt Zelim.

Als die beiden 2007 hierher zogen, war das für ihn eine große Sache. Davor waren sie in einem Flüchtlingsheim im benachbarten Kirchschlag untergebracht. Eigene vier Wände bedeuteten für die zwei jungen Männer einen Schritt Richtung normales Leben. Heute schaut Zelim mit dem Nachbar DVDs oder tratscht mit ihm. Mit den anderen Anrainern versteht er sich ebenfalls gut. Aber vor allem mit Leuten aus Kirchschlag hat er noch regelmäßig Kontakt: mit offenen Ortsansässigen und mit ehemaligen Betreuern des mittlerweile geschlossenen Asylheims. Eine davon hat damals mit einem Zivildiener ihre kleine Wohnung gefunden. Probleme mit Einheimischen hatte er noch nie.

Kann er sich erklären, wieso Tschetschenen hierzulande kein allzu gutes Image besitzen? "Natürlich gibt es auch schlechte Tschetschenen. Aber: Ich lese oft Zeitung, und da kommt nur Negatives über uns vor. Dabei gibt es genug positive Dinge, zum Beispiel gute Sportler", kritisiert Zelim. So seien etwa die tschetschenisch-stämmigen Freistilringer in der Region sehr erfolgreich. Und er ergänzt: "Wenn man über uns in Zusammenhang mit etwas Gutem schreibt, sind wir Russen, wenn etwas nicht passt, sind wir Tschetschenen."

"Der Großteil ist zufrieden mit dem Leben in Österreich", meint auch Vagazr. "Die sozialen Bedingungen in Österreich machen sie glücklich, aber das Trauma bleibt. Vielleicht werden künftige Generationen hier glücklich sein."

"Dem Krieg entkommen? Tschetschenien und TschetschenInnen in Österreich" ist 2009 im Verein Alltag Verlag erschienen.