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Wir hätten es wissen können

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Dass der Überfall auf die Ukraine so überraschend kam, deutet auch auf ein Bildungsproblem unserer politischen Eliten hin.


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Ein Argument, das rund um den Krieg Wladimir Putins gegen die Ukraine und die damit verbundene Abhängigkeit vom russischen Gas immer wieder vorgebracht wird, lautet sinngemäß: Putin habe sich in den vergangenen Jahren extrem stark verändert, deshalb habe niemand vorhersehen können, welchen Krieg er dereinst vom Zaun brechen werde. Pech gehabt, sozusagen, und damit löst sich natürlich jede Verantwortung für die heute so unerquickliche Abhängigkeit von Energielieferungen aus Russland in Unwohlgefallen auf.

Doch das stimmt so nicht. Wahr dürfte vielmehr sein, dass es den Eliten nicht nur unseres Landes am Sachverstand, an der Fähigkeit zur historischen Analyse und vielleicht auch bloß am Interesse für Russland gefehlt hat. Denn es gab und gibt durchaus Leute, die schon lange vor dem gewarnt haben, was gerade passiert. So berichtete etwa die Austria Presse Agentur (APA) im Jahr 2005 von einem Vortrag Otto Habsburgs an der Johns-Hopkins-Universität in Washington: "Der älteste Sohn des letzten österreichischen Kaisers hat (. . .) eindringlich vor dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und einer seiner Ansicht nach in Russland bestehenden Kriegsgefahr gewarnt. (. . .) Putin spreche sehr offen über seine Absichten, dies habe auch Hitler getan. ‚Sie machen, was sie sagen‘, meinte Habsburg. Katastrophen könnten allerdings nur entstehen, wenn auf Gefahren nicht reagiert werde." Und während Putin in Europa damals noch hofiert wurde, warnte Habsburg: "Unser größtes Problem in Europa ist heute Russland und die Herrschaft Putins."

Der damals 92-Jährige analysierte die Lage um Lichtjahre präziser als die damals politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen. Auch Gary Kasparow, einst UdSSR-Schachgenie, kapierte schon früh, was wirklich los ist. Er sagte 2015 im Buch "Warum wir Putin stoppen müssen" einen Überfall auf die Ukraine vorher und rief dazu auf, ihr Waffen zu liefern und die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl zu beenden. Niemand habe ihm glauben wollen, ärgerte sich Kasparow in einem Interview mit der "Welt": "Auf die Frage, ob ich Putin wirklich für gefährlicher hielte als den IS, sagte ich: Die Terrororganisation kommt und geht, Putin ist eine ständige existenzielle Bedrohung. Da wurde ich angeschaut, als wäre ich ein Idiot." Sogar im Unterhaltungsgeschäft gab es Hellsichtige. Tom Clancys 2013 veröffentlichte Polit-Thriller "Command Authority" beschreibt atemberaubend detailliert, was heute in der Ukraine traurige Realität ist.

Sich heute als Politiker oder Unternehmer darauf zu berufen, der Krieg sei quasi wie ein völlig unvorhersehbares Naturereignis vom Himmel gefallen, ist nicht wirklich belastbar. Viel eher gilt leider: Die Fähigkeit, in Geschichte zu denken und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, ist vor allem in der heutigen, stark marketinggetriebenen Politik und deren Umfeld ziemlich schwach entwickelt. Entsprechende Fehleinschätzungen sind die zwingende Folge. Eine Art Bildungsferne, für die wir jetzt alle einen ziemlich hohen Preis zahlen werden.