Die radikalislamische Isis erobert den Irak im Sturm, die Soldaten der irakischen Armee laufen reihenweise davon.
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Bagdad/Ninive. Im Sturm erobern Terroristen der Organisation "Islamischer Staat im Irak und Levante" (Isil/Isis) immer größere Teile Iraks. Die zweitgrößte Stadt des Landes, Mossul, ist derzeit genauso unter ihrer Kontrolle wie Saddam Husseins Heimatstadt Tikrit. Neueste Eroberung: Baiji, das Energiezentrum des Landes. Die größte Raffinerie Iraks steht hier, Elektrizitätswerke versorgen ganz Bagdad mit Strom. Jetzt sollen die Islamisten auf dem Vormarsch auf die irakische Hauptstadt selbst sein. Wie kann das geschehen, dass innerhalb von wenigen Tagen ganze Landesteile, Regierungspaläste, Fernsehsender und Polizeistationen schwarze Dschihadisten-Fahnen tragen? Gibt es im Irak keine Sicherheitskräfte, die diesen selbst ernannten Gotteskriegern entgegentreten?
Guter Verdienst
Über eine Million Soldaten zählt die irakische Armee. Zusammen mit der Polizei sind es 1,5 Millionen Männer und wenige Frauen, die auf der Lohnliste der Regierung stehen. Ihr Verdienst gilt als gut, 1000 Dollar und mehr pro Monat. Die Jobs sind begehrt. Fast jede Familie in Bagdad hat mindestens ein Mitglied in Polizei oder Armee. Sie sind die finanziell tragende Säule der Gesellschaft, denn noch immer ist die Arbeitslosigkeit hoch, andere Jobs unsicher. Und trotzdem bieten die Soldaten den marodierenden Isis-Terroristen keinen nennenswerten Widerstand. Mossul wurde weitgehend kampflos eingenommen. Auch Tikrit fiel innerhalb weniger Stunden in die Hände von Isis. Augenzeugen aus beiden Städten berichten, die Soldaten hätten ihre Uniformen ausgezogen, die Waffen niedergelegt, die Fahrzeuge verlassen und seien nach Hause gegangen. Andere seien samt ihren Fahrzeugen in die kurdischen Autonomiegebiete Richtung Erbil und Dohuk geflüchtet.
Auch Hani hat sich aus dem Staub gemacht. Seit sechs Jahren gehört der Kurde der irakischen Armee an und ist Grenzsoldat. Er ist in Badush stationiert, einem Dorf in der Nähe von Rabia im äußersten Nordwesten Iraks, an der Grenze zu Syrien. Hani ist 36 Jahre alt, durchtrainiert und muskulös. Frau und Kinder leben im kurdischen Dohuk. Die Provinz Ninive mit der Hauptstadt Mosul, wo Hani seinen Dienst versah, ist schon lange ins Kreuzfeuer von Isis geraten. Der Kurde hat sie gesehen, wie sie über die grüne Grenze hin und her gegangen sind. Er nennt sie immer noch Al-Kaida, wovon sie ursprünglich abstammen. Dass die Organisation Osama bin Ladens sich zwischenzeitlich von Isis distanziert hat, weil die mittlerweile zu radikal geworden sei, weiß Hani nicht. "Als der Bürgerkrieg in Syrien begann, sind viele von Al-Kaida Irak nach Syrien gegangen", erzählt er. Manchmal seien sie zurückgekommen und hätten sich Waffen besorgt. Das Geld kam aus den Golfstaaten. Mossul ist zum Umschlagplatz geworden für alles, was die Rebellen in Syrien gebrauchen können. Hanis Leben wurde gefährlich. Einen Laster voll mit TNT haben er und seine Kollegen neulich abgefangen. Er wollte illegal über die grüne Grenze von Syrien in den Irak rollen. Der Fahrer wurde verhaftet, der Wagen in die Luft gesprengt. Illegale aus Saudi-Arabien, Pakistan und Jordanien haben sie ebenfalls geschnappt. Orte wie Badush gibt es zu Hunderten entlang der Grenze zu Syrien.
Nur minimal trainiert
Umgerechnet 18,5 Milliarden Euro haben die Vereinigten Staaten für die Ausbildung der neuen irakischen Armee ausgegeben, nachdem US-Administrator Paul Bremer nach dem Einmarsch im Frühjahr 2003 die gesamten irakischen Sicherheitskräfte aufgelöst hatte und eine neue Armee gründete. Doch beim Abzug der US-Truppen acht Jahre später stellte ein interner Bericht des Pentagon fest, dass die Armee noch immer "unzureichende Standards" aufweise. So sei die Ausrüstung beispielsweise der Grenztruppen völlig unzulänglich. Zwar seien Sondereinheiten für den Anti-Terrorkampf ausgebildet worden, aber das Gros der Soldaten sei nur minimal trainiert. Als absoluten Schwachpunkt nennt der Bericht die Unfähigkeit der irakischen Armee, sich gegen äußere Feinde zu verteidigen. Es gebe so gut wie keine Luftabwehr, eine Luftwaffe sei praktisch nicht existent. Auch Hani bemängelt die ungenügende technische Ausstattung an der Grenze. Sie hätten keine Nachtsichtgeräte, nicht einmal genügend Ferngläser. Ob ein illegaler Passant ein Flüchtling oder ein Selbstmordattentäter sei, könne kaum festgestellt werden. Es gebe keine Sprengstoffdetektoren, "nichts dergleichen".
Zur "Schiitenmiliz" mutiert
Was jedoch noch schwerer wiegt als die unzulängliche Ausbildung und mangelhafte Ausrüstung, ist die Moral der Truppe. "Ich kämpfe doch nicht für Maliki", hörte Hani in den vergangenen Monaten immer häufiger von seinen Kameraden. Auch auf ihn wurde der Druck seitens der Familie und seinen Freunden immer stärker. Als es zwischen dem Regierungschef Nuri al-Maliki in Bagdad und dem Kurdenpräsidenten Masoud Barzani in Erbil zum offenen Streit kam, traute sich Hani nicht mehr zuzugeben, dass er noch immer Mitglied der irakischen Armee sei.
Scharenweise hätten die Kurden schon vor einem Jahr die Streitkräfte verlassen und sich den eigenen, kurdischen Peschmerga angeschlossen. Der Kampfgeist der Sunniten sei ebenfalls minimal. "Die kleinen Soldaten werden doch nur verheizt", gibt Hani ihre Haltung wieder. In höheren Positionen hätte der schiitische Regierungschef keinen Sunniten geduldet. Das zeige sich schon daran, dass er den Posten des Verteidigungs- und Innenministers mit sich selbst besetzt hat, eine Position, die im Parteienproporz des Irak einem Sunniten zustünde. Der Ruf der Armee, eine Streitmacht für alle Volksgruppen zu sein, wie von den Amerikanern zunächst angedacht, ist durch die Haltung von Präsident Maliki zunichte gemacht worden. "Die Armee hat er zu einer Schiitenmiliz umgebaut", sagt Hani im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" bitter. Den Grenzsoldaten wundert es daher nicht, dass die Terrorgruppe Isis speziell in den mehrheitlich von Sunniten bewohnten Provinzen Ninive, Salahuddin und Anbar so schnell Fuß fassen konnte.