Lebensmitteltechnologe Klaus Dürrschmid über die Sicherheit und sinnliche Qualität von Nahrungsmitteln, die kulturelle Formung von Geschmack - und warum unser Schweinsbratenrezept auf die Spätantike zurückgeht.
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"Wiener Zeitung": Herr Dürrschmid, was macht eigentlich ein Lebensmitteltechnologe?
Klaus Dürrschmid: Lebensmitteltechnologen sind größenwahnsinnige Köche. Sie wollen nicht nur für sich selbst und ihre Familie Essen zubereiten, sondern am besten für die gesamte Menschheit. Sie bedienen riesige Kessel und High-Tech-Maschinen, um gewaltige Mengen an Lebensmittelprodukten herstellen zu können.
Das klingt nicht gerade nach Wissenschaft.
Das ist Technik und Wissenschaft. Stellen Sie sich ein Lebensmitteltechnologie-Labor wie eine riesige, hochmoderne Küche vor. Darin arbeiten Techniker häufig nach denselben Prinzipien wie Köche, wenn sie versuchen, Rohstoffe zu veredeln, sie haltbarer, schmackhafter oder bekömmlicher zu machen.
Ich dachte, die Lebensmittelsicherheit ist der wichtigste Forschungsschwerpunkt?
Sicherheit von Lebensmitteln ist ein zentraler Aspekt der technischen Lebensmittelproduktion. Sie muss unbedingt gewährleistet werden, aber sie ist nur ein Faktor unter vielen. Denken Sie nur an den Genusswert, den Spaßfaktor, ethische oder ökologische Aspekte oder die ernährungsphysiologische Qualität von Lebensmitteln.
Was ist mit wirtschaftlichen Aspekten?
Wissenschafter entwickeln optimierte, industrielle Verfahren nicht nur, um Unternehmen wirtschaftlichen Nutzen zu bringen. Wir forschen beispielsweise, um Ressourcen zu sparen, um Rohstoffe möglichst schonend zu verarbeiten oder um den Einsatz chemischer Zusatzstoffe zu senken. Aber ich stimme zu, dass oft neue technische Möglichkeiten oder lebensmittelchemische Prozesse zu stark im Vordergrund stehen. Das Resultat, ein essbares Produkt, das die Lebensqualität und die Gesundheit der Konsumentin beeinflusst, wird manchmal ein wenig vergessen. Mehr Interdisziplinarität würde ich mir da schon wünschen.
Werden mit der genannten Idee der Lebensmittelsicherheit auch wirtschaftliche Interessen geschützt?
Kurzfristig betrachtet sind Lebensmittelsicherheit und Konsumentenschutz alles andere als ökonomisch. Maßnahmen zur Gewährleistung von Lebensmittelsicherheit sind teuer, und ich glaube kaum, dass Europas Unternehmen all die notwendigen Investitionen ohne den Antrieb durch den Gesetzgeber durchführen würden.
Würde das stark diskutierte Freihandelsabkommen (TTIP) mit den USA die Sicherheit verändern?
Ich habe den Eindruck, dass die amerikanischen Konsumenten ein deutlich ausgeprägteres Sicherheitsbedürfnis haben als die Europäer. Punkto Gesundheit im Sinne von verdorbenen Lebensmitteln stellt das Freihandelsabkommen keine Gefahr für Europas Konsumenten dar. Das Pro-blem ist aber, dass US-Lebensmittel in sehr vielen Fällen mit Europa-Standards nicht vereinbar sind. Das betrifft etwa Zusatzstoffe oder Produktionsmethoden. Das viel zitierte Chlorhuhn ist ein sehr sicheres Produkt. Die Frage ist nur, warum man ein totes Huhn in eine Chlorlösung tauchen muss.
Warum?
Das macht man, weil das lebende Huhn unter problematischeren Bedingungen gezüchtet wurde, als in Europa. Also muss am Ende der Produktion die Chemiekeule angewendet werden, um das Fleisch keimfrei und sicher zu machen. Diesen Weg will die EU nicht gehen. Bei uns sollen, laut Gesetzgeber, die Hühner unter so guten Bedingungen leben, dass das Hühnerfleisch mikrobiologisch unproblematisch ist.
Das Chlor ist also nicht das Problem?
Die amerikanischen Produzenten haben mit Sicherheit nicht den Willen, ihre Konsumenten zu vergiften. Also nein, das Chlor selbst ist kein Problem. Ich glaube auch nicht, dass das Hühnerfleisch qualitativ schlechter ist, als unseres, aber ethisch betrachtet sind die Produktionsmethoden in den USA gelegentlich problematisch. Sicherheit ist auch eine Wertvorstellung.
Wie meinen Sie das?
Betrachten wir zum Beispiel den rechtlichen Zugang zum Thema Sicherheit: In Europa unterliegt eine Produktionsanlage unzähligen Sicherheitsvorschriften. Sind diese nicht erfüllt und behördlich abgenommen, wird dort kein Schalter umgelegt, geschweige denn ein Lebensmittel hergestellt. In den Staaten ist das anders. Dort können Sie produzieren und auf den Markt bringen, was immer Sie wollen. Aber wenn etwas passiert, werden Sie bis über beide Ohren mit Klagen eingedeckt. Anders formuliert: Bei uns sorgt die Politik mit Gesetzen dafür, dass Konsumenten geschützt sind. In Amerika wird das Rechtssystem eingesetzt, um nötigenfalls für späte Gerechtigkeit zu sorgen. Im Falle von Gesundheitsschädigung widerspricht das europäischen Wertvorstellungen.
Gemäß öffentlicher Meinung vertragen sich Technologie und Essen nicht. Wie stehen Sie dazu?
Die Lebensmittelindustrie und die Lebensmitteltechnologie haben ein desaströses Image. Viele Konsumenten gehen eigentlich davon aus, von den Produzenten auf verschiedenste Weise betrogen zu werden.
Woran kann das liegen?
Liebe geht durch den Magen. Als Esser suchen wir die emotionale Gewissheit, dass unsere Speisen von einem Menschen mit viel Zuneigung zubereitet wurden. Von Geburt an ist Ernährung mit persönlicher und körperlicher Beziehung verknüpft. Ich erinnere nur an die Mutterbrust. Schon allein deswegen widerstrebt uns die Vorstellung, dass das Essen aus riesigen Metallcontainern kommt. Die Industrialisierung der Lebensmittelprodukte ist emotional nicht vermittelbar. Wenn Konsumenten dann mit der grotesken Marketingidee konfrontiert werden, dass industriell hergestellte Lebensmittel mit verkitschten Ideal-Landschaften und traditionellen Kochmethoden beworben werden, fühlen sie sich betrogen und vertrauen der Industrie nicht mehr.
Könnte es moralisch akzeptableres Industrieessen geben? Es muss ja nicht sein, dass in einem Supermarkt zu jeder Jahres- und Tageszeit an jedem Ort in Österreich alle Produkte des Sortiments angeboten werden.
Der Gesetzgeber könnte sich durchaus um nachhaltigere, bessere Nahrung bemühen. Aber diesen Willen sehe ich überhaupt nicht. In diesem Land ist man froh, wenn es billige Schnitzel gibt. Hinterher darf die Sintflut kommen. Dabei müssen wir ehestmöglich ein ethisches Versorgungssystem erdenken und etablieren.
Warum ist das notwendig?
Ein großer Teil des Wirtschaftssystems hängt von der Lebensmittelversorgungskette ab. Die Agrarpolitik und Landschaftspflege, die Rohstoffspekulation, das Verkehrswesen, die Versorgungssysteme, Kühl- und Energiekreisläufe etc. sind mit dem täglichen Essen verwoben. Auch Ihr ökologischer Fußabdruck ist damit verwachsen.
Warum ignoriert die Politik das Essen?
Es gibt schon Projekte, etwa aus dem Gesundheitsministerium. Bei diesen Initiativen stehen aber einzelne Gesundheitsideen im Vordergrund und nicht eine grundsätzlich nachhaltigere Lebensmittelversorgung.
Ihr Hauptforschungsgebiet ist die Sensorik, das Empfinden beim Essen. Was macht ein Sensoriker?
Wir widmen uns den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften und den ethischen und psychologischen Qualitäten eines Produkts.
Was meinen Sie damit?
Es geht einerseits um die Frage, wie ein Lebensmittel beim Verzehr schmeckt, wie es sich anfühlt, welche Geräusche es macht, welche Konsistenz die Konsumentin im Mund erlebt?
Das klingt nach eher langweiligen, quantitativen Tests.
Langweilig ist das überhaupt nicht. Wir müssen neben den unmittelbaren sensorischen Wahrnehmungen auch auf die kulturellen Backgrounds achten. Wir essen nicht, was schmeckt. Uns schmeckt, was wir essen. Wir lernen also mit dem Essen unsere Kultur kennen. Wir wachsen in eine Tradition hinein, die vielleicht seit Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden besteht. Es ist unheimlich interessant, in alten Kochbüchern herumzuschmökern, denn man sieht dann, dass oft uralte Vorstellungen verantwortlich dafür sind, dass wir Gerichte in der heute noch üblichen Form zubereiten.
Bitte nennen Sie uns ein Beispiel.
Der Schweinsbraten. Dieses Rezept basiert auf der sogenannten Viersäftetheorie von Galen und Hippokrates. Das sind spätantike Vorstellungen darüber, wie die Welt und der Körper zusammengesetzt sind - und zwar aus vier Säften: Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim. Jeder Mensch verfügt über eine bestimmte Zusammensetzung dieser Säfte: die sogenannte Komplexion. Darauf muss man die individuelle Ernährung abstimmen, um ein gesunder Mensch zu sein. Ziel ist ein ausgeglichener Säftehaushalt.
Was haben Blut und Galle mit "unserem" Schweinebraten zu tun?
Jedes Lebensmittel, jeder Rohstoff beinhaltet ebenfalls diese vier Säfte. Das Schweinefleisch ist zum Beispiel kalt und schleimig. Deswegen muss man es braten, um es austrocknen zu lassen, und man muss bestimmte Kräuter beigeben, um die Schleimigkeit auszugleichen. Dazu gehört unter anderem Knoblauch. Auf diese Weise wurden Rezepte vor tausenden Jahren sehr intellektuell entwickelt. Wir machen den Schweinebraten nicht mit Knoblauch im Rohr, weil er so am besten schmeckt, sondern weil sich vor zweitausend Jahren Leute etwas zu vier Säften überlegt haben, die es in Wahrheit gar nicht gibt.
Sie sind der bekannteste Sensoriker Österreichs und kommen mit den Lehren von Galen und Hippokrates. Das ist doch Kulturgeschichte. Führen Sie Ihr eigenes, naturwissenschaftliches Forschungsgebiet nicht ad absurdum? Kann man denn als Sensoriker überhaupt etwas erforschen, wenn ohnehin alles Kultur und Psychologie ist?
Nicht die Soziologen oder Historiker, sondern die Sensoriker haben herausgefunden, dass den Menschen die Ergebnisse ihrer kulinarischen Kultur am besten schmecken. Sensoriker haben als Erste erforscht, dass wir den Geschmack von Kindesbeinen an erlernen und damit feste Mitglieder einer bestimmten Kultur sind. Das ist doch eine schöne neue Interdisziplinarität. Sensoriker sind nichts anderes als experimentelle Psychologen im kulinarischen Bereich.
Wie macht man so etwas genau?
Ja, wie will man erfahren, was ein Mensch beim Essen wahrnimmt? Man kann einfach fragen, wie etwas schmeckt. Aber Antworten auf solche Fragen sind problematisch, weil wir in der Regel kein geeignetes Vokabular für unsere Sinneswahrnehmungen haben. Ansehen können wir es einem Probanden auch nicht immer, ob er süß, sauer, salzig, umami oder bitter schmeckt und was er riecht. Für eine analytische Beschreibung sensorischer Eigenschaften braucht man also speziell ausgewählte und geschulte Personen. Wenn es aber darum geht, ob bzw. wie gut ein Lebensmittel schmeckt, führt kein Weg an einer Befragung von Konsumenten vorbei.
Und wenn die Testperson lügt?
Natürlich weiß ich nicht, ob die Testperson die Wahrheit sagt - und auch nicht, ob sie die Wahrheit überhaupt weiß. Deswegen suchen wir auch nach Methoden, bei denen die Testpersonen nicht lügen können, sondern eine nicht bewusst gesteuerte Reaktion gemessen wird, wie etwa der mimische Ausdruck, die Hautleitfähigkeit oder die Pupillenweite.
Warum erforscht die Industrie die sensorische Wahrnehmung überhaupt? Ist es nicht doch ein Wunsch der Konzerne, schnell ein kommerzielles Wunderprodukt zu entwickeln?
Teilweise schon. Allerdings ist die Anwendung der Sensorik in der Industrie gelegentlich wirklich schlecht. Diese berühmten Geschmackstests der Marketingabteilungen, bei denen Menschen gefragt werden, ob ihnen spontan das neue Joghurt oder die neue Schokolade schmeckt, sind uninformativ und entsprechen keinesfalls den langfristigen Vorlieben der potentiellen Konsumenten. Aus den sehr fragwürdigen Ergebnissen dieser Pseudostudien entwickeln sich aber diese völlig uninnovativen, ja schlechten Produkte, die den Markt überschwemmen. Bei einer Spontanverkostung präferiert fast jeder von uns sehr einfach gestrickte Rezepturen aus sehr wenigen Zutaten. Wenn sie aber diese einfachen Lebensmittel ein paar Tage lang essen, dann wird es sehr langweilig, denn eigentlich stehen wir auf sehr komplexe, tiefsinnige Rezepturen und auf neue Erfahrungen. Vieles wird erst mit der Zeit interessanter. Wenn es der sensorischen Forschung gelingt, die Lebensmittelindustrie dazu zu bringen, vernünftigere, bessere, komplexere Produkte zu entwickeln, dann sind wir auf dem richtigen Weg.
Was wären solche Ziele?
Langfristig wohlschmeckende, komplexe und daher befriedigende Produkte. Das würde vielleicht auch helfen, weniger zu essen. Diese trivialen, infantilen, viel zu süßen Lebensmittel befriedigen uns nicht und verleiten meiner Meinung nach zu gedankenlosem, maßlosem Verzehr. Ich habe beispielsweise den Eindruck, dass adipöse Menschen in großen Mengen stark gesüßte Erfrischungsgetränke oder Energy drinks trinken und dabei wegen der mangelnden Befriedigung immer mehr konsumieren.
Kann komplexes gutes Essen das Lebensglück und damit die Gesundheit der Bevölkerung steigern?
Ja. Das ist meine Hypothese. In Spitälern, Schulen, Kantinen etc. muss die Qualität der Verpflegung auf jeden Fall gesteigert werden. Es ist zum Beispiel viel befriedigender, einen wirklich gut gereiften Paradeiser zu essen, als die konventionellen, die nur nach Wasser schmecken.
Wird es zukünftig notwendig werden, Insekten zu essen, um unseren Planeten zu retten?
Als alleinige Maßnahme gegen den Klimawandel wäre der Verzehr von Mehlwürmern sicher zu kurz gegriffen. Um ökologisch zu essen, ist ein massiver Umstieg von tierischen zu pflanzlichen Proteinen notwendig. Mein Department ist beispielsweise an einem großen, europaweiten Projekt beteiligt, das sich der Entwicklung von fleischähnlicher, proteinreicher Nahrung aus Pflanzen widmet. Dabei wurde auch ein Hühnerfleischimitat hergestellt, dessen Textur und Geschmack in bestimmten Speisen von echtem Fleisch nicht mehr zu unterscheiden war.
Wie wird das hergestellt?
Aus verschiedensten Proteinen, unter anderem aus Weizeneiweiß. Das Eiweiß wird aus den Pflanzen rausgenommen und mit komplizierten technischen Verfahren weiter verarbeitet. Schlussendlich schickt man das Eiweiß durch einen Extruder und erhält eine fleischähnliche, faserige Masse.
Warum ist diese Frage des Fleischersatzes so wichtig? Anders gefragt: Warum ist das Fleisch an sich kulturell so viel wertvoller als jede Form pflanzlicher Nahrung?
Ich denke, wer Fleisch isst, muss sich der Problematik des Tötens stellen. Das Schlachten verleiht dem Essen das starke Gewicht. Deswegen wurde das Fleisch an sich vor Jahrtausenden in Rituale eingebettet, die noch heute ihre Relevanz haben. Ja und klarerweise hat Fleisch eine sehr große ernährungsphysiologische Qualität, die zu einer guten körperlichen Entwicklung und unserer Gesundheit beitragen kann.
Martin Hablesreiter, geboren 1974, und Sonja Stummerer, geboren 1973, leben als Architekten, Designer und Autoren in Wien. Zuletzt ist von ihnen der Band "Eat Design" (Metroverlag 2013) erschienen.
Klaus Dürrschmid wurde 1964 in Linz geboren. Er studierte Germanistik und Ethnologie an der Universität Wien und Lebensmittel- und
Biotechnologie an der Universität für Bodenkultur. Am Institut für Lebensmitteltechnologie der "Boku" ist er seit 2005 als Assistenzprofessor beschäftigt. Weiters unterrichtet er an der Fachhochschule Wiener Neustadt und an der Technischen Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Lebensmittelsensorik, Ernährungspsychologie und Produktentwicklung. Klaus Dürrschmid ist
Obmann des Österreichischen und des Europäischen Sensoriknetzwerks und er hat zahlreiche internationale Publikationen verfasst.