Die Geschichte des homosexuellen Menschenrechtsaktivisten Giuliano erzählt von einem bedrohlichen Klima in Ungarn.
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Budapest. Andrea Giuliano wirkt erschöpft, tiefe Ringe rund um seine Augen zeugen von zu vielen zu kurzen Nächten. Seine Geschichte handelt von Engagement, politischem Kampf und auch Lebenslust. Seit acht Jahren lebt der gebürtige Italiener in der ungarischen Hauptstadt. Als er nach seinem Studium an einem europäischen Austauschprogramm teilnahm, entstand zwischen ihm und Budapest eine unerwartete Liebe. "Vielleicht war es die Art und Weise, wie das Licht die Straßenzüge umarmt, vielleicht lag es an den Farben oder daran, dass diese Stadt immer danach strebt, ihr altes, grandioses Gesicht zu bewahren." Der junge Mann aus dem Süden ließ sich vom mitteleuropäischen Charme begeistern.
Am Anfang lief die Liebesgeschichte gut. Kurz nach dem EU-Beitritt 2004 präsentierte sich Ungarn als eine der Erfolgsgeschichten des ehemaligen Ostblocks: Trotz zugespitzter politischer Auseinandersetzungen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten war es ein offenes Land, in dem zahlreiche Menschen aus anderen Ecken Europas ihr neues Zuhause gefunden hatten, um Lebensqualität und Entdeckungslust zu kombinieren.
Doch spätestens 2010, nach Ausbruch der Wirtschaftskrise, machten sich dicke Wolken am rot-weiß-grünen Horizont bemerkbar. Bereits ein Jahr davor hatte es die Roma als erste Opfer getroffen. Mehrmals. Und tödlich. Giuliano engagierte sich schon damals gegen rechtsextreme Gewalt. Als die Schlägertruppen der Ungarischen Garde durch Dörfer zogen, um die Volksgruppe einzuschüchtern, hielt er es für wichtig, Solidarität zu zeigen. "Ich war einer der wenigen, die in den kleinen Orten schliefen, um die Nazis in die Schranken zu weisen."
Kurz danach kam die rechtspopulistische Regierung von Viktor Orbán an die Macht. "Von da an traf es immer mehr Menschen, mit Budapest als offener, freundlicher Stadt war es so gut wie vorbei", erinnert sich der 33-jährige Menschenrechtsaktivist und Fotograf, der sich immer öfter verpflichtet fühlte, etwas gegen die Verrohung der ungarischen Gesellschaft zu unternehmen. Leicht war es nicht. Schließlich verfügte der Premier über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und über eine zweifellose Popularität, die er nutzte, um unabhängigen Medien einen Knebel zu verpassen, Obdachlosigkeit unter Strafe zu stellen oder die Ehe als heterosexuelles Privileg zu definieren.
Gefährliche Entwicklungen
Dementsprechend fühlen sich rechtsextreme Gruppen immer häufiger ermutigt, ihre Agenda in und außerhalb des Parlaments zu verfolgen. "Zwischen der Regierungspartei Fidesz und der zweitstärkste politische Kraft, der rechtsradikalen Jobbik, sind die Übergänge oft fließend. Das treibt den Mainstream immer weiter nach rechts", erklärt der Soziologe János Ladányi von der Budapester Corvinus-Universität.
Auch Giuliano entging diese gefährliche Entwicklung nicht. Im Gegenteil - er musste sie in den vergangenen Monaten hautnah erleben. Wie jedes Jahr nahm er im Sommer 2014 an der schwul-lesbischen Pride Parade teil. Und weil er von den "üblichen, zahnlosen Aufrufen zu Toleranz und Respekt genug hatte", beschloss er, sich mit der angespannten politischen Situation kritisch auseinanderzusetzen. Ziel seiner Parodie waren die homophoben und antisemitischen Randgruppierungen um Jobbik, die zunehmend in der breiten Öffentlichkeit auftreten, ohne ernstzunehmenden Widerstand der Zivilgesellschaft fürchten zu müssen.
Giuliano karikierte vor allem den "Verein der nationalgesinnten Motorradfahrer", jene rechtsextreme Gruppe, die kurz davor unter dem zweideutigen, judenfeindlichen Motto "Gib Gas" durch die Straßen von Budapest ziehen wollte. Die ungarische Justiz stoppte die Aktion im letzten Moment, doch der Jobbik-nahe Verein zeigt seitdem immer wieder Präsenz - vorzugsweise auf irredentistischen Veranstaltungen, bei denen eine Revision der 1920 festgelegten Grenzen des Landes gefordert wird.
Die Parodie ging mit der mittlerweile allgegenwärtigen Landkarte Großungarns ins Gericht: Laut Anhängern der rechtsnationalen Bewegung sollen großflächige Gebiete fast aller Nachbarländer wieder an Ungarn angegliedert und damit die "Ungerechtigkeit" der nach dem Ersten Weltkrieg unterzeichneten Friedensverträge wiedergutgemacht werden. In der Tat ist diese Landkarte immer öfter zu sehen - als Aufkleber an zahlreichen Autos, Aushängeschild in Läden oder eben als Logo der "nationalgesinnten Motorradfahrer". Die Rechtsextremen zeigten sich über Giulianos Performance wenig amüsiert. Umso weniger, als sich der Italiener öffentlich zu seiner Homosexualität bekennt, fehlerfrei Ungarisch spricht und damit nicht als ahnungsloser Ausländer abgetan werden kann.
Zahlreiche Drohungen
Kurz nach der Parade folgten die ersten Drohungen. "Schwuchtel, wir werden uns um dich kümmern", so der Tenor in zahlreichen Telefon- und Mail-Nachrichten. Sándor Jeszenszky, der Vorsitzende der "nationalgesinnten Motorradfahrer", zeigte Giuliano wegen Verleumdung und "respektlosen Umgangs mit nationalen Symbolen" an. Dann suchten ihn diverse Jobbik-Kader in seinem Büro und sogar zu Hause auf - und trafen ihn zum Glück nicht an. Als seine persönlichen Daten auf mehreren Neonazi-Portalen veröffentlicht wurden, war dem Aktivisten klar, dass sein Leben womöglich in Gefahr ist. Seitdem musste er dreimal umziehen. Gleichzeitig wandte er sich an die Tasz, eine ungarische Menschenrechtsorganisation. Seine Klage wegen Drohungen und Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte brachte bisher wenig: Zweimal hat die ungarische Polizei versucht, die Akte "aufgrund mangelnder Beweise" zu schließen, obwohl die Drohbotschaften bereits dutzende Seiten füllen.
Doch Andrea Giuliano will nicht aufgeben. "Es wäre falsch und unwürdig, mich einschüchtern zu lassen." Freiheit müsse gegen Rechtsextremismus verteidigt werden, ebenso das bunte, offene Budapest, seine Liebe auf den ersten Blick. Die Feier dürfe nicht aufhören, der Kampf um Demokratie auch nicht. Dieser Kampf fordert im heutigen Ungarn einen zunehmend hohen Preis.