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"Wir leben in einer Blase"

Von Anja Stegmaier

Politik

Der Sozialforscher Howard Williamson über die Schwierigkeiten europäischer Jugendpolitik.


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"Wiener Zeitung": Gibt es eine europäische Jugendpolitik?

Howard Williamson: Die EU-Kommission würde natürlich sagen, es gibt eine. Es gibt auch ein Gerüst, die europäische Jugendstrategie von 2009. Der Europarat hat auch so etwas Ähnliches, genannt Agenda 2020. Eigentlich gibt es aber keine europäische Jugendpolitik. Alle 28 Mitgliedstaaten der EU haben ihre eigenen Ansätze. Und sie erzählen ständig allen anderen, dass sie an einem neuen Zugang arbeiten. Die Kernthemen sind natürlich überall die gleichen: die politische und soziale Teilhabe von jungen Menschen, Jugend am Arbeitsmarkt, Jugendarbeitslosigkeit, Ausbildung und Schulabbrecher - ein riesiges Problem in der EU, vor allem in Osteuropa.

Es gibt EU-Programme wie Erasmus Plus, die es seit Jahren, ja Jahrzehnten gibt. . .

Die EU hat Programme schon seit 1987, aber in Sachen Politik gab es das erste Weißbuch erst 2001, als sich der für Jugend zuständige Teil der Kommission eingestehen musste, dass er keine Autorität hatte, die wirklich großen Probleme wie Bildung, Arbeitslosigkeit oder Gesundheit anzusprechen.

Erasmus ist das erfolgreichste Programm der EU, heißt es. Stimmt das?

Die Kommission muss sich immer wieder bewusst machen, wo sie ihre bescheidenen Ressourcen am besten einsetzt, um jungen Menschen wertvolle Angebote zu ermöglichen. Es gibt zahlreiche Programme für die Jugend, und die sind insgesamt gut durchdacht. Mobilität und die Teilnahme für die Jugend in Europa zu fördern, sind absolut essenziell. Die eigentliche Frage ist aber, wer bekommt diese Förderung? Und was nehmen die Leute aus diesen Erfahrungen mit in ihr Leben? In Zeiten der Sparsamkeit hat die Kommission das Budget für die Jugendprogramme und Erasmus um 40 Prozent erhöht - das ist schon bemerkenswert. Aber die Kommission unterstützt bloß die motivierten, aufgeklärten jungen Menschen - und die vielen anderen bleiben zurück. Außerdem gibt es den sogenannten Projekt-Tourismus. Es gibt Menschen, die absolvieren ein Programm nach dem anderen, bis sie zu alt sind, um sich zu bewerben - da sollte man schon schauen, ob das wirklich einen Mehrwert hat.

Wie erreicht man denn dann die, die es nötiger hätten?

Es ist nicht schwer, marginalisierte junge Leute für die Sache zu gewinnen - das habe ich mein ganzes Leben lang getan. Aber es ist harte Arbeit. Es braucht viel Geduld; die gesetzten Ziele sind nicht leicht zu erreichen. Dies ist machbar mit motivierten jungen Leuten, aber wenn man sich immer diese Zielgruppe sucht, pickt man sich die Rosinen heraus. Zwei Dinge müssen passieren: Es braucht einen proaktiven Zugang, um das Bewusstsein zu schaffen, dass es diese Programme überhaupt gibt, und es muss stärkere Partnerschaften geben mit nationalen Initiativen, die diese Jugendlichen Schritt für Schritt an die EU-Programme heranführen. Viele junge Leute, mit denen ich gearbeitet habe, hatten schreckliche Angst davor, ins Ausland zu gehen. Das heißt nicht, dass sie nicht Leute aus einem anderen Land kennenlernen wollen, aber sie sind sehr ortsverbunden, oft rassistisch, homophob, sie halten hoch, was ihnen vertraut ist, und sie hassen Unterschiede. Es gibt viele dieser Kids, und es muss eine Menge getan werden, bevor für sie ein EU-Programm in Frage kommt.

Der Austritt Großbritanniens aus der EU verstärkt diesen Trend noch, oder?

Im Kontext von Brexit, den USA und postfaktischer Politik müssen wir uns ernsthaft damit auseinandersetzen, was bis jetzt wirklich erreicht wurde und welche neuen Methoden es braucht. Für Großbritannien ist es jetzt sowieso zu spät. Ich habe mit so vielen jungen Briten gesprochen, die in EU-Programmen waren, und die haben nicht einmal gewusst, dass ihnen die EU das ermöglicht. England hat zudem seine Jugendberatung komplett zerstört; seit 2010 wurde die total ausgedünnt. Viele Möglichkeiten, die es auf nationaler oder lokaler Ebene gab, gibt es heute nicht mehr. Das macht das, was die EU anzubieten hat, umso wichtiger. Aber gehen Sie einmal in eine Schulklasse und fragen Sie ein paar 16-Jährige, wie viele Länder in der EU sind. Zunächst einmal wissen sie es nicht, aber die meisten interessiert das auch überhaupt nicht. Wir leben in einer Art Blase, wo wir über EU-Programme reden. Alle sind gut informiert, und wir reden über Strategien - aber nur ein winziger Prozentsatz von Menschen in der EU wissen darum und interessieren sich dafür.

Wie wird das nun weitergehen nach dem Brexit?

Vor kurzer Zeit sprach ich mit britischen Parlamentsabgeordneten über die EU-Programme. Ich sagte ihnen, dass das Vereinigte Königreich riskiert, zu enden wie Albanien. Großbritannien wäre zwar noch Teil des EU-Jugendprogramm-Systems, aber es kann keine Führungsrolle einnehmen, weil es kein EU-Mitglied mehr ist. Der Abgeordnete sagte daraufhin, dass das Exit-Team bereits auslotet, wie junge Briten weiterhin an Programmen teilnehmen können. Das ist eben auch Teil der britischen Haltung: Wir wollen raus, aber wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Das ist problematisch, aber es macht mich traurig, wenn junge Menschen im Vereinigten Königreich nicht mehr teilnehmen könnten.

Radikalisierung, Protektionismus, Nationalismus - ist Bildung da die Antwort?

Das ist so ein Blödsinn. Es wird einfach immer nur mit großtrabenden Begriffen umhergeworfen, wie Mobilität oder Bildung. Die Frage ist, was für eine Bildung? Es war ein ausgebildeter Architekt, der KZs gebaut hat, die Bildung in Deutschland und Österreich hat zu vor Jahrzehnten Nazis hervorgebracht. Ich bin wirklich erstaunt, dass Leute glauben, die Antwort wäre schlicht mehr Bildung. Auch bei den Jugendprogrammen heißt es, es müssen mehr Menschen teilnehmen. Wir wollen die Stimme der jungen Leute mehr hören - hört euch mal an, was die sagen, mit denen ich gearbeitet habe: Die sind rechts und wollen Immigranten draußen haben, das hören die von ihren Eltern. Da macht man sich etwas vor, die sind nicht alle tolerant, liberal und multikulti. Ich glaube aber ganz fest an diese EU-Programme, weil ich völlig davon überzeugt bin, dass wir Leute mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenbringen müssen.

Howard Williamson ist Professor für Jugendpolitik an der University of South Wales in Pontypridd. Der ausgebildete Jugend- und Sozialarbeiter war Gastdozent an zahlreichen Universitäten in der ganzen Welt, unter anderem im Iran, in China, Hong Kong und Frankreich.