Zum Hauptinhalt springen

Wir leben in einer Komplexitätsfalle

Von Adrian Lobe

Gastkommentare
Adrian Lobe ist freier Journalist.

Der Fleischskandal ist ein Menetekel der Moderne. Der Mensch schafft Produkte, die er selbst nicht mehr beherrschen kann.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der Fleischskandal weitet sich aus. Jeden Tag werden neue Meldungen bekannt, wonach Produkte mit vermischtem Pferdefleisch aufgetaucht sind. Es ist schon erstaunlich: Da gibt es Richtlinien der EU, nationale Regelungen, die vorschreiben, bei welcher Temperatur das Fleisch gelagert werden soll. Etikette, die Zutaten und Herstellungsort des Produkts ausweisen. Und doch wissen wir am Ende nicht, was wir auf dem Teller haben. Wie Kriminalisten fahnden Verbraucherschutzministerien mit DNA-Proben nach nicht deklarierten Pferdefleischspuren. Was ist da los?

Die Produktionskette ist in der globalisierten Welt so komplex geworden, dass es für den Verbraucher nicht ersichtlich ist, was er eigentlich konsumiert. Schwarzwälder Schinken wird unter anderem mit Säuen aus Dänemark hergestellt. "Nordseekrabben" werden in Marokko geschält und hernach nach Europa importiert. Und das Pferdefleisch, das in den Tiefkühlprodukten der Firma "Findus" gefunden wurde, nahm seinen Weg über Rumänien und Zypern.

Der Fall ist symptomatisch für das Zeitalter der Moderne. Der Mensch schafft Produkte, die er selbst nicht mehr kontrollieren kann. Im Mittelalter wurde das Vieh auf einem Gehöft geschlachtet und in die nächste Metzgerei verfrachtet. Der Händler wusste, mit welchem Fleisch er es zu tun hat. In der Moderne ist die Überprüfung der Waren nicht mehr so einfach. Es entstehen Hybride, Substrate, Ersatzstoffe.

Die Rationalisierung der Ökonomie - und das ist das Paradoxon - hat zu irrationalen Produkten geführt. Gleiches gilt für die Finanzwirtschaft. Investoren ersannen kryptische Konstrukte wie Collateralized Default Options (CDOs), die Kreditderivate in einem Portfolio bündeln und dessen Tranchen selbst wieder verbrieft werden können. Den Wert der Papiere hat am Ende keiner mehr durchschaut. Das Problem ist, dass wir Komplexität mit Komplexität beantworten. Die Staaten versuchen, das Markttreiben mit immer mehr Gesetzen zu regulieren. Doch die detaillierten Regelungsmechanismen können das Interaktionsgeflecht der Märkte nicht entwirren. Im Gegenteil: Behördliche Auflagen verkomplizieren den Produktionsprozess. Daher geht der Versuch fehl, die Lieferkette mit engmaschigen Kontrollen zu überziehen. Denn: Der Fehler liegt im System.

Produktion und Konsumption sind eine gigantische Black-Box, die dem Gesetz der billigsten Verfügbarkeit gehorcht. Was nutzt eine Koordinierungsstelle, wenn dreiste Hersteller tricksen und falsch deklarierte Ware in Verkehr bringen? Der Fleischskandal ist nur die Spitze des Eisbergs. In der Nahrungsmittelindustrie wird gestreckt, gehäckselt, vermengt. Dass die Europäische Union DNA-Tests für Fleisch einführen will, offenbart die Rat- und Machtlosigkeit der Politik. Es mutet geradezu grotesk an, dass man mit hochtechnologischen Verfahren (DNA-Analyse) die Existenz einfachster Dinge (Fleisch) feststellen muss. Der aufgeklärte Verbraucher wird bewusst hinters Licht geführt - er ist dem Gebaren multinationaler Großkonzerne schutzlos ausgeliefert.