Zum Hauptinhalt springen

Wir lieben und wir töten sie

Von Christina Mondolfo

Wissen
Auf du und du mit dem Tier – würde- und respektvoller Umgang sollte  selbstverständlich sein.
© Hristina Satalova

Unser Verhältnis gegenüber Tieren ist ambivalent und umfasst eine riesige emotionale Bandbreite. Angesichts von Massentierhaltung, industrieller Tötung oder Tierquälerei ist es Zeit, selbiges zu hinterfragen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Das Tier hat seinen Platz in der menschlichen Gesellschaft – als geliebtes Haustier, als bewundertes Wildtier, als Jagdtrophäe, als billige, anonyme Massenware oder als geschundene Kreatur, die, sobald sie keinen Nutzen mehr für den Mensch hat, einfach weggeworfen wird. Doch woher kommt es, dass wir, die wir uns als oberste moralische Instanz sehen, die uns daraus erwachsenden Pflichten gegenüber Tieren vergessen?

Darwins Revolution

Im November 1859 veröffentlichte Charles Darwin ein Buch, das die Welt verändern sollte: In "On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life" ("Die Entstehung der Arten") präsentierte er fünf Punkte in Sachen Art-enentwicklung, die heftige Diskussionen auslösten: die Evolution als solche, also die Veränderlichkeit der Arten; die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen; den Gradualismus, damit ist die Veränderung in kleinsten Schritten gemeint; die Vermehrung der Arten beziehungsweise Artbildung in Populationen und schlussendlich die natürliche Selektion als wichtigsten, wenn auch nicht einzigen Mechanismus der Evolution.

Dieses Werk stieß bei Wissenschaftern durchaus auf Anerkennung, von der Kirche wurde ihm diese allerdings verwehrt. Noch größere Anfeindungen erlebte er 1871, als er in "The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex" ("Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl") unter anderem die Verwandtschaft des Menschen mit dem Affen und die Entwicklung von Homo in Afrika postulierte. Außerdem führte er die geistigen Eigenschaften des Menschen auf evolutionäre Vorgänge zurück, betonte die Einheit des Menschen als eine einzige Art und sprach sich dagegen aus, die Rassen (Subspezies) des Menschen als unterschiedliche Arten aufzufassen. Damit stand er in krassem Gegensatz zur Kirche, die den Ursprung des Menschen auf Gott zurückführte.

Hühner erkennen Menschen und vertrauen ihnen, wenn sie gut behandelt werden.  
© Karen Moskowitz / Getty

Nur ein Jahr später erklärte er in "On the Expression of the Emotions in Man and Animals" ("Der Ausdruck der Gemütsbewegungen beim Menschen und den Tieren"), dass auch die Gefühle und deren Ausdrucksweise bei Menschen und Tieren gleich und ebenso durch Evolution entstanden sind.
Darwins Kritiker schäumten, denn er stellte die gottgegebene Stellung des Menschen als Krone der Schöpfung in Frage, als dasjenige Wesen, das sich laut Bibel die Erde und da vor allem die Tiere untertan machen sollte. Vom Einsatz von Gewalt, Unterdrückung oder Missbrauch steht allerdings nichts geschrieben…

Tiere in der Religion

Interessanterweise hatten Tiere in polytheistischen Religionen vielfach einen anderen Status: Ihnen wurden besondere Kräfte zugesprochen, sie waren (geistige) Begleiter durch das Leben und nach dem Tod, sie wurden sogar als Gottheiten verehrt – als bestes Beispiel können wir die altägyptische Glaubenswelt heranziehen, in der es von tierischen Gottheiten nur so wimmelt. Was trotzdem keine der frühen Hochkulturen daran hinderte, Tiere auszubeuten und für verschiedene Zwecke einzusetzen, etwa die Römer, die zur Belustigung Tiere in Arenen aufeinanderhetzten und das blutige Spektakel jubelnd beklatschten.

Ihren zumindest gelegentlichen göttlichen Status verloren die Tiere mit dem Aufkommen monotheistischer Religionen. Und auch wenn niemand den Begriff "Speziesismus" kannte (geprägt hat den Begriff erst 1970 der britische Psychologe Richard Ryder), so wurde er doch durch die Jahrhunderte gelebt. Es bedeutet, dass die Ungleichbehandlung oder moralische Diskriminierung von Individuen allein durch ihre unterschiedliche Artzugehörigkeit gerechtfertigt ist. Auf Eigenschaften wie Leidensfähigkeit oder kognitive Fähigkeiten wird dabei keine Rücksicht genommen. Der französische Philosoph René Descartes sprach Tieren sogar dezidiert Emotionen und Bewusstsein sowie eine Seele ab und erklärte sie zu Maschinen, die deshalb auch keinen Schmerz empfinden könnten. Die Schmerzensschreie, die sie während diverser Experimente, die an ihnen bei lebendigem Leib durchgeführt wurden, ausstießen, bedeuteten für Descartes lediglich "das Quietschen eines Rades".

Albert Schweitzer und die Ehrfurcht vor dem Leben

Schon früh erhoben sich jedoch Stimmen gegen diese Diskriminierung von Tieren und plädierten sozusagen für einen "Antispeziesismus". Albert Schweitzer, der in seinem Urwaldspital in Lambarene nicht nur Menschen, sondern auch verletzte Tiere behandelte, prägte mit seiner Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" eine Denkweise, die keinen Unterschied zwischen höherwertigem und minderwertigem Leben kennt, denn das seien subjektive Maßstäbe. Dass das Leben des einen jedoch immer auf Kosten eines anderen Lebens erfolgt, war auch ihm wohl bewusst: "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." Er ist damit ein Vertreter des "Biozentrismus".

Wie wir mit Tieren umgehen

Heute kennen wir Begriffe wie Tierethik oder Tierrechte, Namen wie Peter Singer, Tom Regan, Martha Nussbaum, Christine M. Korsgaard, Helmut F. Kaplan oder Ted Benton (die Liste ist willkürlich und keineswegs vollständig) sind innerhalb und außerhalb der Szene weit bekannt. Ihnen geht es um den Umgang der Gesellschaft vor allem, aber nicht nur mit Nutztieren, wobei allein schon dieser Begriff Rückschlüsse auf die Haltung der Menschen gegenüber bestimmten domestizierten Tieren ziehen lässt: eine zur Billigware verkommene Masse, die der Großteil der Konsumenten nur in zerlegter, abgepackter Form im Supermarkt zu Gesicht bekommt. Das Leid dahinter, die grausamen Haltungsbedingungen und Transportwege sowie der viel zu frühe und brutale Tod von Millionen von Rindern, Schweinen, Hühnern, Schafen, Puten oder Ziegen pro Jahr bleibt im Verborgenen.

"Schweinefabriken": Keine Beschäftigung und keine Bewegung für die intelligenten Tiere.
© run Roisri / Getty

Haben Tiere Rechte?

Wie schwierig, umfassend und heikel das Thema ist, zeigt eine Diskussion, die davon ausgeht, dass der moralische Status von Menschen und Tieren als empfindungs- und interessefähigen Lebewesen identisch ist. Die beiden Hauptgruppen sind einerseits die Tierinteressensvertreter und andererseits die Tierrechtsvertreter.

Der bekannteste Vertreter der ersten Gruppe ist der australische Ethiker Peter Singer. Er macht den moralischen Status von Lebewesen primär von ihrer Fähigkeit, Interessen zu haben, nämlich zum Beispiel daran, am Leben zu bleiben oder keine Schmerzen erleiden zu müssen, abhängig. Diese Auslegung ist besonders im Bereich der Tierversuche von Bedeutung, denn Singer ist in diesem Sinn nicht für ein absolutes Verbot von Tierversuchen, aber auch nicht für ein absolutes Verbot von Versuchen an Menschen. Als Beispiel führt er etwa Embryonen oder Menschen mit schwersten kognitiven und körperlichen Einschränkungen an, die seiner Ansicht nach nur über eine höchst eingeschränkte, wenn überhaupt vorhandene Interessensfähigkeit verfügen.

Die Tierrechtsbewegung fußt dagegen auf der "Position der Rechte", die ihr Begründer Tom Regan, ein US-amerikanischer Philosoph, postuliert hat: Jedes Lebewesen, das über individuelles Wohlergehen verfügt, hat einen Eigenwert und darf daher nicht Mittel für fremde Zwecke sein. Das deckt sich zwar mit den Tierinteressensvertretern, hat aber weitreichendere Konsequenzen, denn damit steht zur Debatte, ob das Konzept der Rechte, wie es für die Menschen entwickelt wurde, auf die Tierwelt ausgeweitet werden kann und soll. Das Problem der Anerkennung der Rechte durch Tiere sehen Tierrechtsvertreter als "Grenzfall", denn auch Säuglingen, Menschen im Koma oder mit schwersten geistigen Einschränkungen sind Träger von Rechten, auch wenn sie nicht moralfähig oder rational sind.

Viel zu schwer bepackte Esel müssen ihre Lasten bei jedem Wetter über schlechte Wege tragen.
© Ron Hansen

Zu erwähnen ist noch das Modell der "Mitleidsethik", deren bekanntester Vertreter Arthur Schopenhauer ist. Er verzichtet auf die Zuweisung eines moralischen Status, sondern spricht von schutzwürdigen Mitgliedern einer Moralgemeinschaft aus leidfähigen Wesen. Der Mensch erkennt also die Schutzwürdigkeit eines anderen Wesens und hat somit die Verpflichtung, es vor Leid zu bewahren. Die deutsche Philosophin Ursula Wolf hat dieses Konzept erweitert und spricht vom "generalisierten Mitleid". Mit diesem Ansatz soll Leidensvermeidung abseits von Werten, Status, Rechten und Pflichten erreicht werden, das heißt, unsere Schutzpflichten entstehen aus unserer "Mitleidensfähigkeit" und nicht aus vorgegebenen Pflichten.

"Wir verlieren unsere Seele"

Die Frage, wie wir Tiere behandeln sollen oder müssen, ist eine dringliche und obwohl es bereits Antworten darauf gibt, mangelt es an der Umsetzung. Und das ist tragisch, denn, wie die französische Philosophin Corine Pelluchon in ihrem jüngsten Werk "Manifest für die Tiere" feststellt: "Unser Verhältnis zu den Tieren ist ein Spiegel, der uns zeigt, wozu wir in den letzten Jahrhunderten geworden sind. In diesem Spiegel sehen wir nicht nur die Schrecken, die unsere Spezies sich bei der Ausbeutung anderer empfindungsfähiger Lebewesen zuschulden kommen lässt, sondern auch das bleiche Gesicht einer Menschheit, die ihre Seele zu verlieren droht. […] Wenn wir den Belangen der Tiere kaum Beachtung schenken, sie wie Objekte behandeln und gleichgültig hinnehmen, dass ihr Leben von Leid geprägt ist, legen wir nicht nur einen Despotismus an den Tag, den keine Religion zu rechtfertigen vermöchte – oder allenfalls um den Preis einer widersinnigen Verwechslung des Auftrags, Sachwalter der Schöpfung zu sein, mit dem Recht, eine rücksichtslose Herrschaft über sie auszuüben. Wir amputieren auch einen wichtigen Teil unserer selbst, wenn wir die Stimme des Mitleids zum Schweigen bringen."

LITERATUR
Erich Gräßer (Hrsg.): "Albert Schweitzer: Ehrfurcht vor den Tieren", C.H. Beck, 160 Seiten, 12,40 Euro.
Albert Schweitzer gehört zu den wichtigsten Denkern der Tierschutzbewegung. Seine Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben schließt den Respekt vor allen Tieren selbstverständlich ein. Erich Gräßer hat die verstreuten Texte Schweitzers zur Tierethik in einem Band versammelt, in denen er erzählt, wie er schon als Kind das Leiden von Tieren fühlte oder wie in seinem Spital in Lambarene Tiere als Gefährten und Patienten ernst genommen wurden. Den Mittelpunkt bilden philosophische, theologische und kulturgeschichtliche Überlegungen zur Tierethik, in denen Schweitzer nach der Rolle der großen Religionen und des modernen Denkens für unser Verhältnis zu den Tieren fragt.

Eugen Drewermann: "Über die Unsterblichkeit der Tiere. Über die Verwandtschaft allen Lebens. Zwei Essays", Patmos, 112 Seiten, 12,40 Euro.
Nach der traditionellen christlichen Lehre hat der Mensch Vorrang vor dem Tier, das heißt Tiere stehen den Menschen als Nutzwesen zur Verfügung. Der deutsche Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann wettert in seinen beiden Essays gegen diese Sichtweise und plädiert gegen den kapitalistischen Missbrauch von Tieren, gegen Tierzuchtquälerei und Tierexperimente.

Corine Pelluchon: "Manifest für die Tiere", C.H. Beck, 125 Seiten, 12,40 Euro.
Die französische Philosophin Corine Pelluchon sieht in der Gewalt, die Menschen Tieren zufügen, eine Funktionsstörung unserer Gesellschaft, die auf wirtschaftlicher Ausbeutung und der Zerstörung des Lebendigen beruht. Wie Menschen Tiere behandeln, betrifft im Kern die Frage nach unserer Menschlichkeit. Pelluchon zieht Parallelen zum politischen Kampf für die Abschaffung der Sklaverei, bietet aber auch konkrete Vorschläge für den Übergang zu einer gerechteren Gesellschaft, die die Interessen von Mensch und Tier gleichermaßen berücksichtigt.

Christine M. Korsgaard: "Tiere wie wir. Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben", C.H. Beck, 346 Seiten, 30,80 Euro.
Für die Philosophin und Harvard-Professorin Christine M. Korsgaard hat das Leben eines Menschen und das eines Tieres den gleichen Wert. Ihre Begründung, warum Tiere weder getötet noch benutzt werden dürfen, ist keine abstrakte Analyse, sondern zeigt anhand konkreter Beispiele, warum die Rechtfertigungen von Massentierhaltung und Tierversuchen moralisch unhaltbar sind. Ihre von Kants Moralphilosophie und einer Theorie des Guten nach Aristoteles ausgehenden Argumentation zeigt, dass Menschen nicht wichtiger als Tiere sind und wir als moralisch-empathische Wesen vor allem Pflichten gegenüber Tieren haben. Ein radikales Buch und wichtiger Beitrag zur Tierethik.