Ein Großteil der iranischen Bevölkerung ist mit dem Establishment und der wirtschaftlichen Lage unzufrieden. Seit Donnerstag gibt es in vielen Landesteilen chaotische Straßenproteste. Eine Spurensuche.
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Teheran/Wien. Sie verbreiteten sich in den vergangenen 72 Stunden in Windeseile im Internet: Videos von Protesten der iranischen Bevölkerung gegen das Establishment. In Städten, Dörfern und am Land zeigte sich dasselbe Bild: zumeist junge Menschen einfacher sozialer Schichten begehren auf. Anfänglich gegen die schlechte Wirtschaftslage, dann gegen die Regierung des als moderat geltenden Präsidenten Hassan Rohani und schließlich gegen das ganze rigide System der Islamischen Republik. "Die Unzufriedenheit mit den Mullahs trägt der Perser seit Jahren mit sich herum, jetzt aber lässt er alles raus", meint ein junger Politikstudent in einem Posting.
Rohani hatte bei seiner Wahl 2013 eine Bürgerrechtscharta, mehr Frauenrechte, eine Verbesserung der Wirtschaftslage und eine Freilassung der politischen Gefangenen und Oppositionellen versprochen. Nach seiner Wiederwahl 2017 versprach er diese Dinge noch einmal und wies auf den Atomdeal vom Juli 2015 hin, der den Iran aus der internationalen Isolation katapultiert hat. Der erhoffte "bessere Alltag für die Perser" und der Wirtschaftsaufschwung lassen aber weiterhin auf sich warten. Die Oppositionsführer stehen nach wie vor unter Hausarrest und die Gefängnisse sind voll mit politischen Gefangenen und Journalisten aus dem In- und Ausland.
Doch Rohani ist nicht das Feindbild Nummer eins. Das Objekt des Hasses ist immer öfter Irans Oberster Geistlicher Führer, Ayatollah Ali Khamenei. Selten zuvor gab es seit 1979, dem Gründungsjahr des schiitischen Gottesstaates, so viele öffentliche Parolen gegen den greisen und kranken Führer, der seit dem Tod des Revolutionsvaters Ruhollah Khomeini 1989 die Geschicke des Landes leitet und in allen Belangen ein Vetorecht hat. Am Wochenende waren auf Aufnahmen Menschen zu sehen, die Khameneis Bild zerreißen, niedertrampeln und dann verbrennen. Dabei schreien Sie: "Nieder mit dem Diktator!" oder "Geh zum Teufel, du Abschaum!".
"Grüne Revolution"
Soweit der Status quo. Die jetzigen Ereignisse kann man aber nicht mit dem Schicksalsjahr 2009 und der sogenannten "Grünen Revolution" vergleichen, als Hunderttausende auf die Straße gingen, um gegen die Wiederwahl des Hardliner-Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad zu protestieren. Die damalige Wahl war laut Beobachtern manipuliert, die Polizei griff ein und schlug die Proteste mit den Revolutionsgarden brutal nieder. Einige männliche Demonstranten wurden im Gefängnis Kahrizak brutal vergewaltigt, andere mussten mit schweren Verletzungen untertauchen und leiden bis heute an einem Trauma. Hunderte Tote und Verletzte hinterließen einen schwarzen Schatten auf ein dunkles Kapitel in der jüngsten iranischen Geschichte.
Damals waren es Intellektuelle, die eine Bewegung orchestrierten, diesmal sind es die Unter- und die Mittelschicht, die fünf Hauptanliegen haben: Erstens geht es um die Frage, warum der Iran Milliarden in die Hand nimmt, um Einsätze im Jemen, im Libanon, in Syrien, in Bahrain und im Irak zu finanzieren, während die eigene Bevölkerung zu einem Gutteil unter der Armutsgrenze lebt. Zweitens geht es um die restriktiven Sittenregeln, die den westlich orientierten Persern sehr gegen den Strich gehen. Drittens gibt es kein Vertrauen mehr in die Regierung, die Verbesserungen, Freiheiten und mehr Rechte versprochen, aber nicht gehalten hat.
Ferner haben viele genug vom Status der Behandlung, den Perser - Stichwort Einreisebeschränkungen von US-Präsident Donald Trump - bei der Einreise in die USA oder nach Kanada über sich ergehen lassen müssen. Letztlich ist die katastrophale Umweltsituation im Iran, allen voran der giftige Smog in Teheran, unerträglich geworden.
Internetdienste blockiert
Was sagt die Führung? Sie hält sich zurück - auch die Polizei ist eher defensiv. Vorläufig zumindest. Am Sonntag drohten der Innenminister und die Revolutionsgarden mit einem harten Durchgreifen bei weiteren Demonstrationen. Eine andere Reaktion auf die Proteste wurde bereits eingeleitet: die Behörden haben den Zugang zu zwei wichtigen Internetdiensten, Telegram und Instagram, eingeschränkt. Die Entscheidung sei aus Sicherheitsgründen getroffen worden, meldete das iranische Staatsfernsehen.
Telegram ist für viele Perser die App, um Videos und Nachrichten zu den anhaltenden Protesten gegen die Regierung auszutauschen. Es gibt darin sowohl abonnierbare Kanäle für öffentliche Nachrichten wie auch die Möglichkeit, Kurznachrichten direkt auszutauschen.
Die iranischen Behörden werfen "konterrevolutionären Kräften" im Ausland vor, die derzeitigen landesweiten Proteste gegen die Regierung über die Sozialen Netzwerke anzustacheln. Unter anderem seien dort Anleitungen für den Gebrauch von Feuerwaffen und Molotowcocktails in den Umlauf gebracht worden, sagte Telekommunikationsminister Mohammad Javad Azari Jahromi. Azaris Worte nimmt kaum jemand in Teheran ernst, denn die Regierung hat ein Problem. Mehr als zwei Drittel der iranischen Bevölkerung (rund 80 Mill. Menschen) ist unter 30 Jahre alt und sehr Internet-affin. YouTube, Facebook, Twitter und Instagram zählen - obwohl offiziell teilweise verboten - mehr als 25 Millionen Accounts im Golfstaat. Diesmal wird sich die iranische Führung etwas ausdenken müssen, denn der Zorn könnte große Folgen haben. Wie heißt es auf den
Transparenten "es reicht und wir machen nicht mehr mit". Ein paar besänftigende Parolen allein werden nicht ausreichen.