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"Wir müssen auch an uns denken"

Von Eva Zelechowski

Politik

Im Zug von Wien nach Frankfurt reisen nicht nur Menschen, sondern auch ihre Emotionen: Es fährt die Angst um den eigenen sozialen Abstieg mit, der Zorn auf tatenlose Politiker, und das Sitz an Sitz mit der Hoffnung auf ein friedliches Leben.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Endlich Urlaub. Drei Wochen nichts tun. Ich plane einen Trip nach Frankfurt. Mit dem Zug, denn Zeit spielt keine Rolle. Als ich den Bahnsteig auf dem Westbahnhof ansteuere, schlurft eine junge Frau mit einer Caritas-Decke über den Schultern und einem Sandwich in der Hand an mir vorbei. Ein Mensch auf der Flucht. Unsere Blicke bleiben kurz aneinander haften, vielleicht zu lange. Sie schaut mich eindringlich an, formt die Hände zu einer imaginären Kamera und "fotografiert" mich. Ihr Blick ist verletzt und verletzend zugleich. Ich male mir aus, wie sie sich fühlen muss, zwischen zwei Welten, in Ungewissheit und Angst.

Etwa eine Woche zuvor kamen die ersten Züge mit Flüchtlingen aus Ungarn auf dem Westbahnhof an. Viele Wiener und Wienerinnen demonstrierten Solidarität und Hilfsbereitschaft, organisierten sich und hießen die Menschen willkommen. Die Flüchtlinge riefen "Alemanya! Germany!", hielten Fotos der deutschen Kanzlerin Angela Merkel hoch. Auch eine Woche später, als ich aufbreche, stehen viele noch am Westbahnhof, werden von NGOs betreut und bitten um Spenden für Zugtickets.

Zwischen Geschäftsreisenden, Urlaubern und Flüchtlingen besteige ich einen der zahlreichen "Trains of Hope" von Österreich nach Deutschland. Vor Wochen, Monaten, vielleicht auch Jahren haben diese Menschen Krieg, ihre zerbombten Häuser, erbärmliche UNHCR-Flüchtlingslagern im Libanon oder Jordanien hinter sich gelassen. Pro Tag kommen derzeit etwa 10.000 Menschen in Deutschland an. In Österreich bleiben die Wenigsten. Vor mir ärgert sich ein Anzugträger über die "Sch* Wirtschaftsflüchtlinge".

Die meiste Zeit zieht der ICE an der Monotonie von Kukuruz- und Weizen-Feldern vorbei, hin und wieder rollen wir durch einen märchenhaften Wald, gelegentlich durch Dörfer. Manchmal verlangsamt der Zug, sodass man einen genaueren Blick in die Gärten und auf Terrassen werfen kann. Spielzeug und Kinder-Gummistiefel, aufgespannte Sonnenschirme, Grillage-Überbleibsel. Schön. Ich erinnere mich an gemeinsame Grillabende mit Freunden und spüre Geborgenheit. Welche Gedanken schießen den Menschen auf ihren vielleicht letzten Kilometern der Flucht hier durch den Kopf? Erleichterung und Hoffnung glaube ich in vielen Augen zu entdecken. Einige Kinder schlafen erschöpft, andere graben sich schüchtern unter den mütterlichen Arm, erkunden mit neugierigen Kinderaugen die Umgebung oder schenken mir ein Zahnlücken-Grinsen, wenn ich Grimassen schneide.

"It’s my first time on a train!"

Auf dem Weg zum Speisewaggon merke ich, wie es den Zug herschaukelt. Zwei junge Syrer kaufen Wasser ("Without gas!"), Coca Cola und ein paar Sandwiches. Einer von ihnen hat wunderschöne Augen und ein Lächeln zum Niederknien. Sofort hat er mich damit angesteckt. "Wow, we are really fast!" Fast kippen wir um. "It’s my first time on a train", freut er sich. Sie kommen Aleppo und sind mit der ganzen Familie unterwegs. Insgesamt acht Personen. Nach Frankfurt und danach weiter nach Schweden, das ist ihr Traum. In ihren Augen sehe ich Zuversicht und Hoffnung, sie sind gut gelaunt.

Zurück auf meinem Platz spreche ich mit einem Mitreisenden und "waschechten Niederösterreicher" und seiner Gattin über "die Flüchtlinge". "Man muss den Leuten helfen, verstehens mich nicht falsch, aber: Wir müssen auch an uns denken", meint der Mitvierziger. In welcher Hinsicht, frage ich das Ehepaar. Für Martin (Name geändert, Anm.) sei klar, dass die Arbeitsplätze der Österreicher in Gefahr seien und Lohndumping drohe. Das sei schon zurzeit der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Ex-Jugoslawien so gewesen, rekapituliert der Mechaniker die Neunziger Jahre. "Ein Hakler verdient ca. 2.000 Euro brutto. Wenn Firmen sehen, dass einer für 1.500 Euro den gleichen Job machen kann, wird‘s früher oder später ein Problem geben", macht er seinen Sorgen Luft.

Seit fünfzehn Jahren habe er keine Lohnanpassung mehr bekommen. Zuwanderern gibt er dabei nur zum Teil die Schuld, aber so richtig wütend machen ihn die Politiker. Sie hätten nichts weitergebracht, wenn es um die Asylpolitik gehe. "Wann darf außerdem das Volk mitentscheiden?", wirft die Gattin ein. Die letzte Volskbefragung zum Thema "Bundesheer: Ja oder Nein?" bringt das Paar so richtig zum Schnaufen. "Sie befragen das Volk, um dann zu sagen, dass sie es sich ohnehin nicht leisten können? Das gibt’s doch nicht!", ruft Martin. Er fühlt sich von der Politik "gfrotzelt".

Obdachlosigkeit in Traiskirchen schon in den 90ern

Er erzählt weiter, von einem ehemaligen Arbeitskollegen und Flüchtling aus Nigeria, mit dem er gern ins Beisl gegangen ist und der nach einem Jahr gekündigt wurde. Als er ihn eines Abends mit dem Auto nach Hause brachte, standen sie vor dem Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. "Zuhause" hieß für den Asylwerber vor dem und nicht im Gebäude. Im November schlief er auf dem Boden, ohne Schlafsack oder Decke. "I schau ums Eck, liegen da sicher hundert Leut! Das war schon in den Neunzigern so. Nicht erst jetzt!" Heuer wählt der langjährige Sozialdemokrat das erste Mal blau. "Weil nur der Strache die kleinen Leut‘ ernst nimmt." Oder, wie die Journalistin Corinna Milborn neulich in einem kritischen und erhellenden Kommentar auf Facebook schrieb: Weil die FP endgültig die Arbeiterpartei geworden ist.