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"Wir müssen den Wert eines gesunden Menschen wieder mehr schätzen"

Von Teresa Reiter

Politik
Scott L. Greer (M.) diskutierte bei den Gesundheitsgesprächen in Alpbach mit Kajsa Wilhelmsson (von Daniel J. Edelman Ltd., London) und dem EU-Gesundheitsexperten Nick Fahy (l.).
© Luiza Puiu

Hohe Selbstbehalte sind gesundheitsgefährdend, sagt Scott L. Greer.


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Alpbach. 385.000 Menschen in Österreich gelten als arm und sind von einem schlechten allgemeinen Gesundheitszustand und vermehrt von chronischer Krankheit betroffen. Das resümiert die Armutskonferenz in einem kürzlich veröffentlichten Bericht und präsentierte fünfzehn Punkte, um das Gesundheitssystem gerechter zu machen. Scott L. Greer spricht am Europäischen Forum Alpbach 2015 über Probleme der Ungleichheit und der Gesundheitswirtschaft.

"Wiener Zeitung": Überall auf der Welt gibt es eine Zwei-Klassen-Medizin, was bedeutet, dass arme Menschen vom Gesundheitssystem schlechter behandelt werden als Wohlhabende. Stimmen Sie zu?Scott L. Greer: Das ist eine sehr österreichische Frage, denn sie impliziert, dass es "das" System gibt und dann noch das bessere System. In den USA ist der Markt so, dass wir Gesundheitsservices in jeder Preislage und Qualität haben. Man könnte also sagen, es gibt Millionen von verschiedenen Klassen im Gesundheitssystem. In Europa gibt es die Länder mit staatlichen Gesundheitssystemen, wie etwa Spanien, Italien, Großbritannien, Deutschland und Österreich. Wenn man bei weniger schwerwiegenden Dingen eine nettere Behandlung möchte, dann wendet man sich eben an den Privatsektor.

Sobald man für etwas Gebühren einhebt, kreiert man Ungleichheit, denn es wird immer Menschen geben, die sich diese leisten können, und welche, die das nicht können. Das scheint aber keine vordergründige Debatte bei Gesundheitsreformen zu sein.

Es gibt immer Ungleichheit in einer Gesellschaft und die Gründe dafür sind nicht immer ein schlechtes Gesundheitssystem. Überall auf der Welt gibt es auch die Diskussion über Menschen, die das Gesundheitssystem missbrauchen und die Zeit des Arztes verschwenden.

Die laufende Gesundheitsreform in Österreich beschäftigt sich auch damit. Man will Menschen davon abhalten, mit einem Schnupfen in die Ambulanz zu gehen und sie stattdessen in sogenannten Primärversorgungszentren behandeln.

Ja, andere Länder führen einen 10-Euro-Selbstbehalt für solche Leistungen ein. Aber man merkt recht schnell, dass das nichts bringt. Man hebt Gebühren ein, gibt schwangeren Frauen, den Armen und Behinderten Sonderregelungen und am Ende hat man einen riesigen Bürokratieapparat. Jetzt kann sich jemand wie ich die 10 Euro leisten, aber denken Sie an einen armen Diabetiker, der einmal im Jahr einen Orthopäden aufsuchen sollte. Lassen Sie ihn 10 Euro zahlen und er wird daheim bleiben und das nächste Mal, wenn Sie ihn sehen, ist er zur Beinamputation im Spital. Und wenn man die Kosten hoch genug macht, dass das System Geld einspielt, schreckt man die Leute wahrscheinlich überhaupt davon ab, das Gesundheitssystem zu nutzen.

Es gibt Studien, die bezeugen, dass sowohl physische als auch psychische Krankheiten, wie etwa schwere Depressionen, zu weiterem sozialen Abstieg führen.

Wir schätzen die Leistung, die ein gesunder Mensch für die Wirtschaft bringen kann, nicht hoch genug ein. Sie können davon ausgehen, dass der Mensch mit dem amputierten Bein arm bleibt, weil es eine Menge Jobs gibt, die er mit nur einem Bein niemals machen kann. Wieso glauben wir, dass das eine gute Idee ist?

Es gibt Menschen, die es für effizienter halten, Gesundheitsservices dem freien Markt zu überlassen. Was halten Sie davon?

Es funktioniert einfach nicht. Wenn man sich krankenversichert, dann macht man das entweder für eine jährliche Kontrolluntersuchung und stirbt dann vielleicht 90-jährig in einer Lawine. Oder man versichert sich und bekommt drei verschiedene Arten von Krebs. Welches von beiden auf uns zutrifft, können wir vorher nicht wissen. Zweitens ist es sehr schwer, ein guter Einkäufer zu sein wegen einer Asymmetrie bei der Information. Wir wissen nicht, ob wir eine qualitative Behandlung bekommen, und müssen den Ärzten vertrauen.

Sie sind also ein Unterstützer der staatlichen Systeme?

Krankenversicherungen bieten Schutz vor einem finanziellen Desaster. Verbessert sich Ihre Gesundheit? Ein bisschen. Aber der Hauptgrund ist, dass die Bankrottrate hinuntergeht. Gib den Menschen eine Versicherung und wenn sie dann ins Spital müssen, wird es nicht ihr Leben ruinieren. Sie müssen sich nicht zwischen der Miete und ihrer Gesundheit entscheiden.

Die österreichischen und deutschen Krankenkassen haben für dieses Jahr große Verluste vorausgesagt. Gibt es denn die Krise des Wohlfahrtsstaates?

Gesundheitssysteme in der westlichen Welt sind in einer tiefen Krise, und zwar mindestens seit den 1970ern. Ist das eine Krise oder ist das das Leben? Es ist eben ein teurer Posten im öffentlichen Budget und es fällt einem immer etwas ein, was man mit dem Geld stattdessen machen könnte, oder jemand, der das System missbraucht.

Scott L. Greer ist Professor für Gesundheitsmanagement an der Universität von Michigan und beschäftigt sich mit vergleichender Gesundheitspolitik in den USA und in Europa.