Die meisten Vertriebenen kommen aus Myanmar, Bhutan, dem Irak und Somalia.
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Ottawa. Es war der Schnee. Und die gähnende Leere, die ihn erstaunte. Als Chai Bouphaphanh im Februar 1980 nach Kanada kam, erwartete ihn ein neues Leben. Auf den Straßen erblickte er keine Menschen, die Landschaft erstrahlte weiß. Für den damals Dreizehnjährigen war das aufregend, für seine Eltern anfangs ein Schock. Sie waren Flüchtlinge aus Laos, die vergangenen zwei Jahren hatten sie in einem Lager in Thailand gelebt. Bis man ihnen anbot, nach Kanada zu ziehen.
Resettlement nennt es das UN-Flüchtlingshilfswerk. Wiederansiedlung. Es ist die dritte dauerhafte Lösung von lang anhaltenden Flüchtlingskrisen, wenn weder die Rückkehr ins Heimatland noch die lokale Integration im Asylland möglich ist. Denn oft stranden Flüchtlinge in Camps. Wie in Dadaab in Kenia, Heimat von 400.000 Somalis.
Jennifer Hyndman hat vor 20 Jahren selbst in diesen Camps gearbeitet. Heute ist sie Direktorin des "Centre for Refugee Studies" in Toronto und freut sich, dass sich Kanada neben den USA und Australien als klassisches Wiederansiedlungsland verdient gemacht hat. Die absoluten Zahlen sind niedrig, das weiß Hyndman. Trotzdem ist es weit mehr als Symbolik: Für 9650 Flüchtlinge wurde Kanada 2012 ihre neue Heimat.
Europa im Hintertreffen
Weltweit wurde 2012 über 70.000 Flüchtlingen Schutz geboten; 26 Staaten nehmen am Resettlement-Programm der Vereinten Nationen teil, allen voran die USA. "Das Wichtigste wird es sein, Europa an Bord zu holen", sagt Hyndman. Erst seit 2012 gibt es ein freiwilliges EU-Resettlement-Projekt: 14 Staaten verpflichten sich derzeit, eine jährliche Quote an Flüchtlingen aufzunehmen, im Gegenzug gibt es finanzielle Unterstützung der EU. Doch waren es zuletzt nur sechs Prozent aller Wiederansiedlungen. Österreich ist nicht beteiligt. Vor kurzem wurde jedoch erstmalig eine Zusage an 500 Syrer gegeben, die ersten landeten Anfang Oktober in Wien-Schwechat. Sie erhalten von Amtswegen Asyl und müssen sich erst an das neue Land gewöhnen, das sie offiziell willkommen heißt.
Private Sponsoren
Kanada hat auf diesem Gebiet jahrzehntelange Erfahrung. Nach Ende des Vietnamkrieges nahm das Land 60.000 Bootsflüchtlinge innerhalb von zwei Jahren auf. Und es wurde ein Programm vorgestellt, das bis heute weltweit einzigartig ist: das Sponsoring von Flüchtlingen durch die Zivilgesellschaft. Beim Staat registrierte Vereine und private Gruppen aus fünf Personen können bestimmte Flüchtlinge ins Land holen. Im Gegenzug verpflichten sie sich, diese ein Jahr lang finanziell zu unterstützen.
Chai Bouphaphanhs Familie wurde durch eine lokale Mennoniten-Gemeinde gesponsert. Sie stellte eine Wohnung zur Verfügung, der Staat bezahlte den Flug. Ende November berichtete Bouphaphanh auf einer Konferenz in Toronto von seinen Kindheitserinnerungen: die regelmäßigen Einladungen zum Abendessen der Dorfgemeinschaft; die Kleiderspenden; und die Freude, als die Familie seiner Tante ein Jahr später auch einreisen durfte. Nervös ließ er die Konferenzteilnehmer in einer Diashow an seinem Leben in Kanada teilhaben.
Heute arbeitet Bouphaphanh (46) als Fotograf und IT-Experte. Bei der 60-Jahr-Feier des UN-Flüchtlingshilfswerks vor drei Jahren hielt er eine Rede. Stolz sei er gewesen, sagt Bouphaphanh, dem Land persönlich zu danken. Mit seinen damaligen Unterstützern ist er bis heute eng befreundet. Er ist einer von 200.000 Flüchtlingen, die Kanadier bisher gesponsert haben. Kirchliche Organisationen haben sich besonders verdient gemacht. "Es geht auch darum, den Bürgern zu vermitteln: Wir können Flüchtlingen helfen", sagt Hyndman. In Glaubensgemeinschaften treffen verschiedenste Berufe aufeinander. Ob Lehrer, Arzt, Busfahrer oder Installateur - jeder kann Neuankömmlinge unterstützen oder hat Kontakte.
Viele fassen Fuß
Seit Beginn des Jahres gibt es auch gemischte Programme: Einwanderungsbeamte wählen vom UNHCR zur Wiederansiedlung empfohlene Flüchtlinge aus; registrierte Partnerorganisationen können sich auf einer passwortgeschützten Website durch entsprechende Profile klicken und sich für das Sponsoring eines Flüchtlings entscheiden. Der Staat finanziert die ersten sechs Monate nach seiner Ankunft, die Sponsor-Gruppe sechs Monate danach.
Das Programm ist unter anderem eine Reaktion auf die Kritik, dass privates Sponsoring zu einem Großteil Familiennachzug von bereits etablierten Flüchtlingen war. Das Ministerium für Staatsbürgerschaft und Einwanderung will so die Zivilgesellschaft ermuntern, auch Flüchtlinge ohne Familie oder Community in Kanada zu unterstützen. Sponsorgruppen wiederum kritisieren es als Methode, die der Regierung Geld spart, indem sie ihre internationalen Verpflichtungen an Bürger auslagert. Denn gleichzeitig wurden Beschränkungen für private Anträge eingeführt.
Die meisten in Kanada wiederangesiedelten Flüchtlinge kommen aus Myanmar, Bhutan, dem Irak und Somalia. Derzeit wird an einem Projekt gearbeitet, das Männern, Frauen und Kindern aus Flüchtlingscamps im Kongo einen Neustart ermöglichen soll. Viele leben seit Jahren in Lagern. "Manche Gruppen brauchen nach der Ankunft mehr Hilfe als andere", sagt Hyndman. "Aber schaut man nach Toronto oder Montreal, sieht man: Eine Menge Flüchtlinge haben es geschafft, ein normales Leben zu führen."
Chai Bouphaphanh ist längst zum Kanadier geworden. Er hatte nie das Bedürfnis, in die Großstadt zu ziehen; noch heute lebt er in Drake, einem 250-Einwohner-Ort in der Provinz Saskatchewan. Bouphaphanhs Cousin hat ein besonderes Zeichen des Dankes gefunden: Sein fünfjähriger Sohn trägt den Namen des Ortes.