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"Wir müssen uns selbst helfen"

Von WZ-Korrespondentin Karin Rogalska

Politik
Altenpflege: Die Nachfrage steigt, das Angebot nicht.
© fotolia

Ostdeutschland wegen niedriger Löhne kaum attraktiv für Arbeitsmigranten.


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Bratislava/Greifswald. Mit einem genüsslich in die Länge gezogenen "Nee", schüttelt Eva Süteö den Kopf. Eben ganz so, wie sie es sich bei den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern ganz im Nordosten Deutschlands abgeschaut hat, denen etwas ausdrücklich gegen den Strich geht. "Nee", wiederholt die Altenpflegerin nach einigem Überlegen. Die zweiwöchigen Jugendlager auf der Insel Rügen habe sie noch in bester Erinnerung. Deutsch lernen konnte sie da prima. "Aber für Monate weit weg von der Familie, für wenig mehr Geld als hier - wozu der Aufwand?", fragt die Slowakin entgeistert.

Unser Gespräch findet im südslowakischen Rimavská Sobota statt. Mit Arbeitslosenquoten von mindestens 25 Prozent ist das Städtchen seit Jahren trauriger Spitzenreiter der slowakischen Arbeitsmarktstatistik. Eva Süteö ist hier eine Ausnahmeerscheinung. Seit gut einem Jahrzehnt kümmert sie sich zwei Wochen im Monat im Großraum Wien um pflegebedürftige Österreicher. "Das sind alles betuchte Leute, bei denen ich aufblühe", bringt sie ihre Arbeitsmotivation auf den Punkt. Die restliche Zeit macht sie, was sie will, "weil ich es mir - anders als die meisten hier - aussuchen kann", stellt sie klar, während sie betont gelangweilt aus dem Fenster blickt.

Arbeitskräfte wie Eva Süteö sind im ganzen westeuropäischen Ausland begehrt. Inzwischen macht sie sich allerdings schon ernsthafte Gedanken darüber, ob sie überhaupt noch pendeln will. Schließlich schießen derzeit überall in der Slowakei private Altersheime aus dem Boden, die mit Vorliebe Ausländer, vor allem Deutsche, aufnehmen, die in ihrer Heimat selbst mit Unterstützung von Verwandten nicht die Unterbringung in einem Pflegeheim bezahlen können.

Eva Süteö findet es nicht nur der neuen Jobperspektiven wegen erfreulich, dass die Deutschen heuer im Schnitt 42,1 Jahre alt sind und damit die zweitältesten Europäer nach den Italienern. "Wenn sie fit bleiben, haben sie lange was vom Leben. Unsereins arbeitet und fällt dann ziemlich bald um", ist sie überzeugt.

Was die Slowakin über Lebensfreude im fortgeschrittenen Alter sinnieren lässt, stellt nahezu alle, die den Wirtschaftsstandort Deutschland fortentwickeln sollen, vor kaum mehr lösbare Probleme. Die unaufhaltsame Überalterung der Gesellschaft bringt einen tiefgreifenden Wandel der Branchenlandschaft mit sich, der sich ohne massive Zuwanderung kaum abfedern lässt. Daran ändert auch nichts, dass Deutschland allen Prognosen nach im Jahre 2050 nur noch 50 Millionen statt heute knapp 80 Millionen Einwohner haben wird.

Die Jungen gehen

Besonders drastisch macht sich der demografische Wandel in Mecklenburg-Vorpommern bemerkbar, das sie anderswo längst "Altersheim der Republik" nennen. Die Einwohner des ostdeutschen Bundeslandes sind im Schnitt knapp 45 Jahre, in Stralsund, eine der beiden größeren Städte in Vorpommern, sogar knapp 46 Jahre alt, und das, obwohl in der Hansestadt tausende Studenten leben. 2010 gab es in Mecklenburg-Vorpommern noch knapp 1,1 Millionen Erwerbsfähige, im Jahre 2050 werden es nicht einmal mehr 700.000 sein. Es fehlt vor allem an Arbeitskräften zwischen 20 und 60. Rolf Kammann, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Vorpommern, umschreibt die Situation so: "Selbst bei Nutzung aller regional vorhandenen und versteckten Arbeitsmarktpotenziale wird es kurz- und mittelfristig zu erheblichen Problemen bei der Fachkräftesicherung kommen".

In den vergangenen Jahren verloren vor allem das Bildungswesen, die öffentliche Verwaltung und das verarbeitende Gewerbe als Arbeitgeber an Bedeutung. Im Kommen sind das Gesundheits- und Sozialwesen, wirtschaftliche Dienstleistungen und das Baugewerbe. In diesen Branchen sind in drei Jahren knapp 10.000 sozialversicherungspflichtige Jobs entstanden. "An sich gibt es für jeden Erwerbsfähigen Arbeit", sagt Kammann. Allerdings fehlen für viele Stellen Bewerber. So bleibt mindestens jede dritte Lehrstelle unbesetzt.

Seit kurzem betreibt die Wirtschaftsförderung Vorpommern "Fachkräfte- und Zuzugsmarketing". Der Unterschied zu traditionellen Anwerbeinitiativen besteht darin, die Region durch gezielte Anwerbung junger Leute wiederzubeleben. Gesucht werden sie vor allem in den Bereichen Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit und Pflege sowie Industrie.

Locken soll sie die Aussicht auf Leben und Arbeit auf "Deutschlands Sonnendeck". Vorpommern nimmt für sich in Anspruch, Region mit hoher Lebensqualität, niedrigen Lebenshaltungskosten, traumhafter Landschaft und besonders familienfreundlichem Umfeld zu sein. Die Löhne sind allerdings im Schnitt kaum höher als in Bratislava. Die Bevölkerung gilt außerdem Fremden gegenüber als wenig aufgeschlossen.

Kommen sollen die Jungen zunächst aus der weiteren Region, aus Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet und sicher auch aus Mittel- und Osteuropa, schließlich ist der Großraum Szczecin nicht weit. Vorbehalte, wie sie eine Eva Süteö hat, hält Kamman nur für "bedingt zutreffend". Immerhin sei es nicht nur gelungen, Polen in die Gastronomie der Insel Usedom zu holen. Inzwischen arbeite auch eine ganze Reihe Tschechen in Hotels auf Rügen. Das große Umdenken in Mecklenburg-Vorpommern setzt also gerade erst ein, und das, obwohl Demographen die Entwicklungen schon vor rund 15 Jahren vorhersagten. Als Vorreiter bei der Entwicklung zukunftsfähiger Strukturen in einem Bundesland gilt die 3000-Seelen-Stadt Gnoien an der imaginären Grenze zwischen Mecklenburg und Vorpommern. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist es von Rostock immerhin in einer Stunde, allerdings erst nach mehrfachem Umsteigen, zu erreichen.

Networking ist alles

Als ehrenamtlicher Bürgermeister schwingt hier der Sozialdemokrat Hans-Georg Schörner das Zepter. "Wir liegen nicht im Speckgürtel, wir müssen uns selbst helfen", sagt er nüchtern. Seit 2009 macht die Gemeinde vor, wie das gehen kann. Damals wurde sie vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in Berlin für die Pilotstudie "Nationale Stadtentwicklungspolitik - Schwerpunkt Zivilgesellschaft" ausgewählt. Eigentlich geht es darum, was Kommunen unternehmen können, um den demographischen Wandel bis 2050 zu bewältigen. Schörner legte ein bis 2020 reichendes Konzept vor. Dessen Quintessenz lautet: Die Gnoiener müssen sich untereinander vernetzen, wenn sie eine attraktive Kleinstadt wollen, und sich beim Städtebau und der Entwicklung des Tourismus auch mit den Gemeinden in der Nähe verbünden. Schörner formuliert das so: "Fast alles, was wir noch vor drei Jahren negiert haben, bejahen wir nun. Gefragt ist künftig die Kooperation von Vereinen, Arbeitsgruppen und Unternehmen, wichtig ist dabei, dass die Impulse von den Bürgern kommen".

Nur auf den ersten Blick klingt das banal. Das Geschehen in Mecklenburg-Vorpommern wird eben auch im dritten Jahrzehnt nach dem Mauerfall von Menschen bestimmt, die im real existierenden Sozialismus groß wurden. Da ist auch ein Gedankenaustausch, in den alle einbezogen werden, noch keine Selbstverständlichkeit.