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"Wir müssen zurück zum Staatsbesitz"

Von Saskia Blatakes und Thomas Seifert

Wirtschaft
Tony Atkinson gilt als Lehrmeister des derzeit wie ein Pop-Star gefeierten Ökonomen Thomas Piketty und als einer der wichtigsten Forscher über soziale Ungleichheit.
© Thomas Seifert

Ungleichheits-Experte Tony Atkinson meint, der Kapitalismus könne nur überleben, wenn er das Allgemeinwohl im Auge behält.


"Wiener Zeitung": Eine unserer Leserinnen bemerkte zu Ihrem Artikel in der "Wiener Zeitung" ("Probleme mit der Ungleichheit" vom
23. 5. 2014), dass es im Leben vor allem darum geht, welche Chancen man bekommt. Aber ist Chancengleichheit nicht auch eine Illusion?Tony Atkinson: Dass Chancengleichheit erstrebenswert ist, werden die meisten Menschen wohl unterschreiben. Wenn es aber um die Frage geht, wie man diese am besten erreicht, ist man sich auf einmal nicht mehr so einig. Es gibt Probleme, die offensichtlich sind, wie Diskriminierung aufgrund von Herkunft. Es gibt aber auch kompliziertere Fälle: Wie geht man zum Beispiel mit dem Faktum um, dass Studenten bestimmter Universitäten deutlich bessere Jobs bekommen? Englische Anwaltskanzleien stellen zum Beispiel ausschließlich Leute ein, die in Oxford oder Cambridge studiert haben. Hat das nicht auch mit Chancengleichheit zu tun? Wenn man sich die Studenten dort anschaut, sind das meist junge Leute mit reichen Eltern. Das bedeutet, wir müssen das irgendwie ausgleichen. Es könnte aber auch daran liegen, dass die Eltern dieser Studenten sie besonders zum Studium ermutigen. Dann sieht die Sache nicht mehr ganz so einfach aus, denn die Ungleichheit liegt schon mehrere Generationen zurück.

Kritiker würden nun sagen, dass wir nun mal mit unterschiedlichen Talenten geboren sind, und werfen linken Chancengleichheits-Theoretikern Gleichmacherei vor.

Die entscheidende Frage ist doch, wie wir diese Talente belohnen. In England gab es beispielsweise früher einen Höchstlohn für Fußballer, der nur etwas über dem Durchschnittslohn lag. Die Spieler arbeiteten eine Zeit lang im Sport und gingen dann in ihre erlernten Berufe zurück. Das waren sehr respektierte Persönlichkeiten, deren Talent eben nicht finanziell belohnt wurde, sondern mit Ansehen.

Eine Kindergärtnerin verdient aber um einiges weniger als eine Universitätsprofessorin, obwohl sie eine für die Gesellschaft sehr wichtige Aufgabe erfüllt.

Genau. Aber warum muss das so sein? Nehmen wir die Unis als Beispiel. Früher gab es bei uns vier Gehaltsstufen. Die ältesten verdienten etwa dreißig Prozent mehr als die Jungen. Heute bekommen sie das Vierfache. Das ist nicht nur ethisch fragwürdig, sondern es zerstört auf lange Sicht auch den Zusammenhalt der Gesellschaft, denn junge Leute fragen sich, warum sie sich anstrengen sollen, wenn Ältere für die gleiche Arbeit viel mehr Geld bekommen. Dieses System ist also nicht nur ungerecht, es ist auch ineffizient.

Gerade nach der Krise sind vor allem junge Leute von Ungleichheit betroffen.

Ich habe mir die Entwicklung der Löhne angesehen. Es ist niederschmetternd. Die jüngste Altersgruppe hat im Zuge der Krise etwa 8 Prozent ihrer Löhne verloren. Je weiter man die Altersskala hinaufgeht, desto weniger wurde abgezogen. Die Gruppe, die kaum etwas verloren hat, sind die über Sechzigjährigen.

Woran liegt das?

Es gibt sehr viel Druck auf Löhne. Und das liegt wiederum an der Umverteilung von Löhnen hin zum Kapital. Junge Arbeitnehmer sind besonders exponiert. Wir haben ein neues Niedriglohnsegment.

Wie konnte es Ihrer Meinung nach zu dieser Umverteilung nach oben kommen?

Eine Erklärung sind neue Technologien und das Outsourcen von Jobs. Aber es liegt auch daran, dass Firmen sich mehr an kurzfristigen Gewinnen orientieren, weniger in ihre Arbeitnehmer investieren und sie durch Maschinen und Roboter ersetzen. Das ist alles Teil einer Wende, bei der es sich eigentlich um eine kulturelle Umwälzung handelt. Früher gab es auch mehr direkten Kontakt zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer, heute haben sie sich auch räumlich voneinander entfernt, zum Teil sind die Firmen in den Händen ausländischer Fonds.

Was kann die Politik tun?

Es geht nicht nur um Politiker, es geht um jeden Einzelnen. Es gibt zum Beispiel Unternehmen, die sich entscheiden, die Höchstlöhne zu begrenzen. Ich habe gerade von einer Hightech-Firma in Kalifornien gelesen, die ihren Mitarbeitern jährlich nicht mehr als 130.000 Dollar zahlt - und das im Silicon Valley. Oder der Entschluss, nichts aus bestimmten, politisch problematischen Ländern oder von Firmen zu kaufen, die keine Steuern bezahlen, wie zum Beispiel Amazon. Das sind keine politischen, sondern persönliche Entscheidungen. Aber zu Ihrer Frage, was die Politik tun kann: Es kann nicht nur um Steuern und Umverteilung gehen. Der Wohlfahrtsstaat diente von Anfang an dazu, die Wirtschaft zu stabilisieren, was ja auch John Maynard Keynes aufgezeigt hat. Natürlich müssen wir den Wohlfahrtsstaat reformieren. Es geht aber auch vor allem darum, wer an Profiten beteiligt wird. Heute sind die Arbeiter Mini-Kapitalisten, denn Renten werden sehr häufig aus Fonds gezahlt. Die meisten Erträge dieser Fonds bleiben allerdings bei den Banken, die Arbeitnehmer bekommen nur geringe Anteile. Der Staat bietet immer weniger Sicherheit und die Menschen müssen sich selbst um Pensionen und Versicherungen kümmern. Es geht also nicht nur darum, Vermögen zu besteuern, sondern wir müssen uns auch Gedanken machen, wie wir Kleinanlegern helfen können. Denn ihre Ersparnisse sind immer auch ein Schutz vor Armut. Auch im Bereich des Arbeitsmarkts ist viel zu tun. Ein beunruhigender Fall ist Deutschland, wenn man sich die Entwicklung der Niedriglöhne ansieht, die anders als in anderen Ländern stetig gesunken sind. Die Entscheidung Deutschlands, einen Mindestlohn einzuführen, ist ein wichtiger Schritt.

Ihr Schüler und Kollege Thomas Piketty wurde jüngst für seine pessimistische Einschätzung der Situation in Asien angegriffen. Das Argument lautet, dass in China zwar immer noch eine große Ungleichheit besteht, er aber verschweigt, dass mehrere Millionen Menschen aus der Armut befreit werden konnten und der Wohlstand steigt. Selbst in Indien gebe es eine wachsende Mittelschicht. Zu verdanken sei dies nicht dem Kommunismus, sondern dem Kapitalismus.

Indien und China sind sehr unterschiedlich. Indien hat es nicht geschafft, sich um die ländlichen Gebiete zu kümmern. Das Argument stimmt schon, aber die Frage ist doch, was mit Gesellschaften passiert, in denen nicht nur eine neue Mittelschicht entsteht, sondern vor allem auch eine sehr reiche Oberschicht, die wirklich astronomische Summen verdient. In China haben wir es mit einer sehr dezentralisierten regionalen Entwicklung zu tun. Eine wichtige Frage ist, ob es der Führung in Peking gelingen wird, genügend Steuern einzunehmen, um zum Beispiel Pensionen zu zahlen. Wenn man sich die Familienpolitik ansieht, weiß man, dass die Menschen sich nicht auf ihre Kinder verlassen können, weil viele gar keine Kinder haben. Sie müssen also dringend ein Rentensystem aufbauen. Auch die Gesundheitsversorgung hat ein großes Finanzierungsproblem. Joseph Schumpeter hat schon 1918 in "Die Krise des Steuerstaates" darauf hingewiesen, dass kapitalistische Systeme nur überleben können, wenn sie sich um das Wohl der Allgemeinheit kümmern.

In den letzten Tagen gingen die Verhandlungen um das Dienstleistungsabkommen TiSA in die siebte Runde. Welche Auswirkungen haben Privatisierungen wie zum Beispiel die der Wasserversorgung?

Die Frage ist, wer die Käufer sind. Die britische Regierung hat kürzlich die Royal Mail an norwegische und katarische Investment-Fonds verkauft. Auch der Londoner Flughafen ging an ein spanisches Konsortium. Dass ausländische Unternehmen staatliche Infrastruktur übernehmen, finde ich doch etwas seltsam. Wir müssen zurück zum Staatsbesitz.

Zum Schluss noch eine Frage zum viel diskutierten, möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU, der die britische Wirtschaft einiges kosten könnte. Würde sich ein "Brexit" auch auf die Ungleichheit in Großbritannien auswirken?

Ich denke schon. Armut und soziale Ausgrenzung zu reduzieren, ist eine der fünf Ziele des EU-Wirtschaftsprogramms "Europa 2020", das auf zehn Jahre angelegt ist. Ich denke, es ist wichtig, externen Druck zu haben. Die vorherige Regierung hat auch versucht, Armut zu bekämpfen. Das tut die derzeitige Regierung leider nicht. Die europäische Agenda wirkt aber im Hintergrund, weil sie NGOs die Möglichkeit bietet, sich auf sie zu beziehen. Es kommt auch darauf an, in welche Richtung sich die EU bewegen wird. Wir brauchen eine neue Form der sozialen Sicherung, denn der Arbeitsmarkt ändert sich sehr. Wir können nicht mehr von der Idee ausgehen, dass Menschen ihr ganzes Leben Vollzeit im gleichen Job arbeiten.

Sir Tony Atkinson gilt als der Doyen der Ungleichheitsforschung. Der Ökonom hat zahlreiche Bücher und über 140 Beiträge in Fachzeitschriften veröffentlicht. Er gilt als Lehrmeister des französischen Ökonomen Thomas Piketty, mit dem er gemeinsam einige Bücher verfasst hat. Das Atkinson-Maß, ein Index für ungleiche Verteilung, ist nach ihm benannt. Zuletzt sprach Atkinson in Wien auf einer Tagung der Nationalökonomischen Gesellschaft an der Wirtschaftsuniversität.