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"Wir mussten weg, weil wir Kurden sind"

Von Martyna Czarnowska

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Der Kampf der türkischen Armee gegen die PKK zwang Millionen Menschen zur Emigration.


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Pfirsich- und Birnenbäume in den Gärten, Felder, auf denen Tomaten und Kartoffeln gediehen, saftige Wiesen, wo die Schafe genug Nahrung fanden: Akarsuköyü war ein schönes Dorf. Im Osten der Türkei gelegen, keine 80 Kilometer von der Grenze zum Irak entfernt, war es umringt von den Bergen Südostanatoliens. 70 Familien lebten dort, arbeiteten als Bauern und Schafzüchter. Es reichte ihnen an allem.

Doch Akarsuköyü gibt es nicht mehr. Die Pfirsichbäume sind niedergebrannt. Dort wo einst Häuser standen, sind nur noch ein paar Steinhaufen übrig. Die Menschen sind weg. Semsettin Abi zeigt auf eine Fotografie von einem Mauerrest auf einer Wiese. "Das war einmal unser Dorf", sagt der Mann. "Wir mussten emigrieren, weil wir Kurden sind."

Im Jahr 1991 wurden in der Umgebung Soldaten stationiert. Die türkische Armee befand sich - wie heute noch - im Kampf mit der PKK, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans. Die setzt sich, je nach Auslegung, für einen separaten Staat oder mehr Rechte für die kurdische Bevölkerung ein. Für die Regierung in Ankara und viele Türken sind die PKK-Mitglieder Terroristen, auch die EU und USA stufen die Organisation so ein. Viele Kurden hingegen sprechen von Guerilla.

Die Menschen, die in Akarsuköyü lebten, wurden beschuldigt, die PKK zu unterstützen. Zunächst wurde die Umgebung des Dorfes bombardiert, erzählt Semsettin Abi. 70, 80 Tiere wurden dabei getötet. Danach sei kein Tag vergangen, an dem nicht Soldaten in den Ort kamen. Sie trieben die Menschen aus den Häusern, beschimpften sie, schüchterten sie ein, schossen in die Luft. Bald danach verboten sie den Hirten, mit den Schafen in die Berge zu gehen. "Wir konnten unsere Tiere nicht ernähren", klagt Abi. Einige Menschen seien verhaftet und zu Tode gefoltert worden.

Drei Jahre lang ging das so. 1994 durften die Bewohner nicht einmal mehr ihr Dorf verlassen. "Wir verstanden, dass wir so nicht länger leben können", erklärt Abi. Die Menschen legten Vorräte an, bereiteten sich auf die Emigration vor. Doch eines Tages umzingelten Soldaten das Dorf. "Wenn ihr den Ort nicht innerhalb von 24 Stunden verlasst, bombardieren wir ihn", hieß es. Dennoch fingen Soldaten gleich an, die Häuser anzuzünden. Die Menschen flehten sie an, aufzuhören - und mussten mit ansehen, wie Häuser und Vorräte verbrannten.

"Eine alte Frau", erzählt Abi, "ging in ihr Haus, um ihren Koran mitzunehmen. Doch ein Soldat entriss ihr das Buch und warf es ins Feuer. Wir schnappten unsere Kinder, ein paar Sachen und flohen." Die Menschen, die Schafe mitnehmen konnten, verkauften sie im Nachbarort - zum halben Preis. Damals war Semsettin Abi 27 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder. Mit seiner Familie gelangte er auf einem Truck nach Van, etwa 150 Kilometer nördlich seines Dorfes gelegen. Dort hatte er Verwandte. Die Menschen aus Akarsuköyü zerstreuten sich in alle Richtungen. Sie gingen nach Van, Istanbul oder Ankara, dorthin, wo sie jemanden kannten.

In Van kampierte Abi mit seiner Familie eine Woche lang im Garten der Verwandten, bis er eine billige Unterkunft fand. "Die ersten drei, vier Jahre waren furchtbar", sagt er. "Als wir in die Stadt kamen, war das Leben dort so fremd. Die Bewohner akzeptierten uns nicht. Wir hatten kein Haus, keine Arbeit, kein Geld. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Ich habe alle möglichen Gelegenheitsjobs gemacht, meine Frau ging putzen." Nun arbeitet Abi als Wachmann. Von seinen mittlerweile sechs Kindern gingen bis auf das kleinste alle in die Schule, drei ins Gymnasium. "Wir würden sie gerne auf die Universität schicken. Aber wie, wenn uns das Geld fehlt?"

Laut Hilfsorganisationen wurden in den 90er Jahren in der Türkei 3850 Dörfer zerstört und bis zu vier Millionen Menschen vertrieben. Vor vier Jahren habe die Regierung versprochen, den Flüchtlingen zu helfen, berichtet Abi. "Bis heute warten wir darauf."

grenzgaenge@wienerzeitung.at