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Wir Schuldverschiebungsstrategen

Von Heiner Boberski

Wissen

Konrad Paul Liessmann ortete beim Philosophicum Lech den modernen Menschen als "Verantwortungskünstler".


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Lech. "Schuld und Sühne. Nach dem Ende der Verantwortung." Diesem, eine Brücke von alten Mythen zur heutigen Gesellschaft schlagenden Thema widmet sich heuer das am Donnerstag eröffnete Philosophicum Lech (zu dem die "Wiener Zeitung" am 13. September bereits ein Interview mit dem Wiener Philosophen Peter Kampits brachte). Der bis auf den letzten Platz gefüllte Veranstaltungsort, die neue Kirche des Vorarlberger Wintersport- und Sommerwanderortes, bewies, dass sich das Philosophicum bei seiner 18. Auflage als geistiger Anziehungspunkt längst etabliert und heuer auch ein besonders spannendes Thema gewählt hat.

Dabei kam der Begriff Verantwortung erwartungsgemäß bald mehr zur Sprache als "Schuld und Sühne", der alte Titel von Fjodor Dostojewskis heute meist als "Verbrechen und Strafe" übersetztem Roman. Darin tötet der Student Raskolnikow aus voller Überzeugung, gerecht zu handeln, eine alte Wucherin, sühnt aber schließlich seine Tat mit jahrelanger Lagerhaft. Die russische Philosophin Ekaterina Polkakova erläuterte in einem auf den Raskolnikow-Roman und Dostojewskis letztes Werk - "Die Brüder Karamasow" - konzentrierten Referat Dostojewskis Denken über Willensfreiheit und Schuld. Verantwortung habe er vor allem darin gesehen, die Folgen von Taten zu tragen, auch wenn man sie beschränkt zurechnungsfähig oder nur als Wunsch - den ein anderer verwirklicht hat - verübt hat.

Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann, wissenschaftlicher Gesamtleiter für das Philosophicum Lech, wies in seinem Einleitungsreferat darauf hin, dass das, was gesellschaftlich akzeptiert ist, sich wandelt: "Vieles, was vor Jahrzehnten noch als Verbrechen, zumindest aber als moralisch anstößig galt - zum Beispiel Homosexualität -, ist heute, Gott sei Dank, weitgehend akzeptiert, vieles, was vor Jahrzehnten noch normal war - zum Beispiel Rauchen -, gilt heute als verwerflich und wird zum Teil verboten."

Liessmann kam schnell auf das Thema Verantwortung zu sprechen: "Der moderne Mensch, vor allem der aufgeklärte und selbstkritische Europäer, scheint gerne Verantwortung zu übernehmen. Er fühlt sich für vieles, eigentlich für fast alles verantwortlich. Ob es sich um das Weltklima oder den Krieg im Irak handelt, um die Sprachprobleme von Migranten oder die Zustände in Zentralafrika, ob es um die Bildung der Mädchen oder die Gewaltbereitschaft der Knaben, um die Lungen der Nichtraucher oder den Leibesumfang der Pubertierenden geht, um die Auseinandersetzungen in der Ukraine oder um den Zölibat in der Katholischen Kirche, um das Glück der Wenigen und das Unglück der Vielen, die Verantwortung, so scheint es, liegt bei ihm, beim modernen Menschen der westlichen Zivilisation."

Dieser Mensch nehme, wenn schon nicht als Person, so doch als Teilhaber an einer Kultur, die sich angeblich schuldig gemacht hat, Schuld auf sich, zugleich aber distanziere er sich auch davon: "Wer immer dem Schulsystem, den Medien, der Gesellschaft oder dem Westen Verantwortung für was auch immer zuschreibt, hat sich selbst in der Regel von dieser Verantwortung dispensiert. Der moderne Mensch ist geradezu ein Verantwortungskünstler und Schuldverschiebungsstratege."

Ein anderes Phänomen sei, die Verantwortung kaum bei den Betroffenen zu suchen, jeder machte sich einer falschen politischen Ansicht verdächtig, "der auf die Idee käme, aggressive Jugendliche, schlecht integrierte Muslime oder lernschwache Schüler für ihre Lage selbst verantwortlich zu machen". Nein, so Liessmann pointiert, die Verantwortung werde "immer woanders" gesucht: "Gibt es Probleme mit Zuwanderern, fehlt es an einer Willkommenskultur; ziehen junge Dschihadisten aus London oder Wien in den Irak, um Ungläubige zu köpfen, gab es für sie unzureichende Angebote zur Integration; randalieren Jugendliche am Bahnhof hatten sie eine schwere Kindheit; verspielt jemand sein Vermögen an der Börse, wurde er von seiner Bank ganz, ganz schlecht beraten; scheitert jemand in der Schule, waren die Lehrer eine Katastrophe; studieren zu wenige Frauen technische Physik, hat die Gesellschaft versagt. Was gilt eigentlich der Wille des Einzelnen in solch einer Welt ständig verschobener Verantwortlichkeit?"

Wer andere ständig von Verantwortung entlaste, so Liessmann, spreche diesen die Fähigkeit ab, Verantwortung übernehmen zu können. Die Übernahme von Verantwortung habe freilich "eine ganz spezifische Voraussetzung: Macht. Nur, wo ein Machtverhältnis existiert, kann jemand Verantwortung für andere übernehmen." Die Delegation von Verantwortung an Einzelne sei deshalb nur dort sinnvoll, wo diese auch in der Lage sind, die dafür nötige Macht auch auszuüben: "Objektiv zynisch ist es deshalb, Menschen dort mit Verantwortung auszustatten, wo sie keine Möglichkeit haben, diese auch wahrzunehmen."

Liessmann betonte, im Begriff Verantwortung stecke das Wort Antwort: "Sich verantworten bedeutet in einem ganz ursprünglichen Sinn, auf eine gestellte Frage antworten zu können oder schärfer formuliert: antworten zu müssen. Wo, aus welchen Gründen auch immer, keine Frage gestellt werden kann oder gestellt werden darf, gibt es keine Verantwortung."

Wenn wir, so Liessmann den Anspruch haben, freie Wesen zu sein, sollten wir die Verantwortung für unser Tun nicht bei anderen suchen. Verantwortung zu übernehmen, sollte nicht mit Machtgier der einen oder mit Bequemlichkeit der anderen verbunden sein. Liessmanns Rat am Schluss: "Vor allem sollte man darauf achten, dass man sich beim Übernehmen von Verantwortung nicht übernimmt."

"Wo beginnt die Schuld, wo endet die Sühne", fragte Karlheinz Töchterle, ehemaliger Wissenschaftsminister und ausgewiesener Altphilologe, in seinem Vortrag über den Ödipus-Stoff. Dieser sei neben der biblischen Erzählung von Adam und Eva die zweite uralte große Geschichte von Schuld und Sühne. Töchterle hielt über das Drama "König Ödipus" des Sophokles, das Ödipus als mit Überheblichkeit - darin besteht sein wahrer Fehler - agierenden Aufklärer seines eigenen Verbrechens darstellt, fest: "Er unterliegt zwar manchen Fehleinschätzungen, moralische Schuld kommt ihm hingegen nicht zu. Seine großen Untaten Vatermord und Mutterheirat haben die Götter - freilich unter seiner Mitwirkung - gefügt, weshalb er zwar nicht schuldig, gleichwohl aber befleckt ist." In einem weiteren Drama, "Ödipus in Kolonos", das in jüngster Zeit wieder mehrmals zur Aufführung gelangt ist, hat Sophokles die Entsühnung des Befleckten dargestellt.

Galt in der Antike Schuld vielen als Schicksal, dem man nicht entrinnen kann, so werden heute vielerlei Gründe genannt, etwa eingeschränkte Willensfreiheit oder unkontrollierte Gehirnaktivität, warum jemand nicht wirklich für seine Taten verantwortlich gemacht oder schuldig gesprochen werden könne. Sind wir also schon "nach der Verantwortung", wie es im Philosophicum-Titel provokant hieß? "Das würde auch das Ende von Freiheit und Demokratie bedeuten", widersprach Kulturminister Josef Ostermayer bei der Eröffnung.

Dass es sehr wohl Verantwortung zu tragen gilt, betonten auch in einem Podiumsgespräch unter anderen Ex-Vizekanzler Erhard Busek und der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke. Für den Buchautor Christian Felber ("Gemeinwohl-Ökonomie") ist die Verantwortung umso größer, je mehr Freiheit und Macht jemand besitzt: "Die Macht darf nicht so groß werden, dass ihre Inhaber nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können."