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"Wir sehen uns morgen!"

Von Jan Michael Marchart

Reflexionen

Die Monate als Zivildiener in einem Reha-Zentrum waren eine schöne, aber keine einfache Zeit. Die Begegnung mit einer Krebspatientin bleibt unvergessen. Wohl für die Ewigkeit.


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Sie sagte "Auf Wiedersehen" zu mir. Wie immer, wenn mein Dienst zu Ende war. Sie winkte mir, ich winkte ihr. Doch wir wussten beide, dass es diesmal anders war. Wir würden uns nicht mehr sehen; dessen waren wir uns bewusst. Aber keiner von uns sprach das Offensichtliche aus oder ließ es sich anmerken.

Vor einiger Zeit stand ich zum ersten Mal in ihrem Patientenzimmer. Sie lag zusammengekauert in ihrem Bett. Sie hatte ihre Arme um ihre Beine gelegt. Die Bettdecke lag zusammengedrückt am Fußende. Sie wirkte so unscheinbar, so klein. Sie atmete schwer. Sie hatte Krebs. Ihr Name war Clara. (Name geändert.)

Wenn die Worte fehlen

Es war 8 Uhr 13, in einer Viertelstunde musste sie bei der Therapie sein. Ich sollte sie dorthin begleiten. Ich war damals seit ziemlich genau einem Monat Zivildiener und was den Umgang mit Patienten anging, noch reichlich unerfahren. Das Bewusstsein, mit einem Menschen zu sprechen, der dem Tod so nah war, ließ es mir kalt den Rücken herunterlaufen.

Die richtigen Worte zu finden, erschien mir unmöglich. Sie waren irgendwo in meinem Kopf. Aber ich konnte sie nicht artikulieren. Ich wollte nichts Falsches sagen. Dabei hatte ich immer etwas zu sagen, zu jedem Thema. Diesmal nicht.

Ich wartete einen Moment, holte tief Luft, ehe ich sie ansprach. Mein Körper war angespannt. Ich war nervös. Mehr als ein formales "Guten Morgen" brachte ich nicht hervor. Wie bitte? Was für eine unangebrachte Phrase, dachte ich. Der Morgen war nicht gut. Ich schloss meine Augen und hoffte, sie würde mir die Aussage nicht übel nehmen.

Sie drehte sich nach mir um und sagte nichts. Ihre Augen waren ganz klein und verweint. Ihre Verwandten waren am Vortag da gewesen, sie vermisste sie. "Dürfte ich Sie zur Therapie begleiten", fuhr ich fort. Clara nickte und drehte sich auf den Rücken. Sie sah nach oben auf die weiße Zimmerdecke, wartete einen Moment, atmete tief durch, griff auf die Halterung über ihr und zog sich langsam hoch. "Ich bin etwas schwindelig", sagte sie und stützte sich mit einer Hand an der Bettkante ab, mit der anderen wischte sie sich die Tränen aus den Augen.

Ich holte ihr ein Glas Wasser aus dem Badezimmer. Clara trank wenig. Schon seit Tagen. Auch diesmal nippte sie nur. "Mehr will ich nicht. Mehr geht nicht."

Mir machte die Situation zu schaffen. Ich dachte darüber nach, wie es wohl ist, dem Tod so nahe zu sein. Trotz der Umstände wirkte sie, als ob sie gefasst wäre auf das, was passieren würde. Sie ließ sich nichts anmerken. Ich kannte zwar weder Claras Alter, noch konnte ich sie danach fragen. Das tut man nicht. Nicht in dieser Situation. Sie wirkte älter, als sie tatsächlich war. Ihr Körper war abgekämpft, durch den Krebs und die unzähligen Behandlungen. Aber sie würde es jedenfalls zu früh treffen, dachte ich.

"Ich bitte Sie nur ungern, aber können Sie mir ausnahmsweise die Schuhe anziehen", fragte sie. "Mir fehlt heute die Kraft dazu". Ich kniete mich nieder, und zog ihr den ersten Schuh an. Währenddessen griff Clara nach ihrem Handspiegel, sah sich einen Moment lang an und strich sich über ihr Gesicht. Durch die Chemotherapie hatte sie ihre Haare verloren. Auf die hatte sie besonders Wert gelegt, wie auf den Bildern auf ihrem Nachttisch zu sehen war. Sie war stets eine gepflegte Person gewesen.

Während ich mit dem zweiten Schuh beschäftigt war, deutete sie auf den gegenüberstehenden Tisch. Der war voll mit Blumensträußen und Süßigkeiten von Verwandten, die sie die letzten Tage besucht hatten. Was sie aber meinte, war die Perücke, die auf einem Styroporkopf angebracht war. Sie war blond. So wie Clara noch vor ein paar Jahren. Ich reichte ihr die Perücke, sie setzte sie auf und kämmte sie eifrig, rückte sie zurecht und lächelte in den Spiegel. Für einen Moment schien die Welt wieder heil.

Gehen konnte Clara nicht mehr. Sie war zu schwach, ihre Beine zu schwer. Ich schob den Rollstuhl schräg zum Bett, fixierte ihn, stützte sie und setzte sie sicher auf dem schwarzen Sitzpolster ab. "Danke", sagte sie, "sehr freundlich."

Dann fuhren wir los. Ich brachte keinen Satz heraus. Was stand mir überhaupt zu? Möchte man in dieser Situation nicht für sich sein - nichts von anderen wissen oder hören? Noch dazu von einem Menschen, den man gar nicht kennt? In mir brodelte es. Dutzende Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich wollte so viel sagen, und doch wieder nichts.

Erdrückende Stille

Wir warteten auf den Fahrstuhl. Minuten, die sich wie Stunden anfühlten. Fast instinktiv sahen wir beide zugleich in Richtung Fenster, das nur wenige Meter von uns entfernt war. Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern. Der Himmel war grau; die Blätter der Bäume waren längst abgefallen. Herbst, eine triste Jahreszeit. Und doch faszinierte mich der Anblick. Diese Weite. Diese eintönigen Farben. Andererseits die bunten Blätter, die in diesem beengenden Grau wirkten, als würden sie leuchten.

Der schrille Ton des angekommenen Fahrstuhls riss mich aus meinen Gedanken. Wir fuhren hinein, ich drückte den Knopf mit dem ausgeblichenen "E" darauf. Wir mussten ins Erdgeschoss. Der Fahrstuhl war leer, wir waren allein. Stille. Noch immer. Erdrückend. Die Türen gingen langsam zu. Es war 8 Uhr 26. Wir sollten pünktlich ankommen. Ich versicherte Clara, sie nach der Therapie wieder abzuholen. Sie hob ihre Hand und winkte mir. "Heute haben Sie sich hübsch gemacht", sagte die Therapeutin zu Clara. Sie lächelte. Ich lächelte. Zum ersten Mal an diesem Morgen. Dann verschwand Clara mit der Therapeutin hinter der Tür.

Als Zivildiener hat man bei den Patienten eine Art Heldenstatus. Man tut Gutes, etwas für das Gemeinwohl, wurde mir oft gesagt. Der Dienst mit der Waffe würde niemandem etwas bringen. Ich hätte mich für den richtigen Weg entschieden. Dieser Weg führte mich in ein Reha-Zentrum.

Diese Zeit war schön und schwierig. Ich habe viel über mein Leben gelernt. Und über die Leben anderer. Ich habe während dieser neun Monate gesehen, was das Schicksal für einen Menschen bereithält. Dieses Schicksal kann grausam sein. Und es macht vor niemandem halt. Dessen bin ich mir heute bewusst.

Ein dankbares Lächeln

Es gab aber auch schöne Momente: Gespräche über private Angelegenheiten oder Alltagsthemen, die schnell ausuferten. Und diese Kleinigkeiten, das Auswechseln der Batterie für das Hörgerät, das Vorlesen aus der Zeitung oder die Fernsteuerung unter dem Bett. Ich habe es gerne gemacht. Ein Lächeln der (zumeist älteren) Menschen, wenn man zur Hilfe eilt, ist unbezahlbar.

Man muss wissen, wie schwer es diese Menschen haben. Sie pendeln von ihrem Zuhause in die nächstgelegene Krankenanstalt. Für Tage, für Wochen, für Monate. Außer ihren Angehörigen, sofern sie (noch) welche haben, ist niemand da, dem sie sich anvertrauen können. Und dann ist da ein junger Mann, so unerfahren und unverbraucht. Ihm schenken sie ihr Vertrauen und teilen mit ihm auch die ein oder andere Lebensweisheit.

Zu Anfang war es für mich nicht leicht, mit motorischen beziehungsweise geistigen Krankheiten umzugehen; ist es auch heute nicht, wird auch nie anders sein, aber ich wurde stärker. Deren Leid war meine Arbeit. Das ist die absurde Realität. Ich musste helfen. Sie hatten sich auf mich verlassen. Ich saß auf einem Sessel neben dem Therapieraum und sah mir das Bild an, das gegenüber von mir auf der Wand hing. Ich konnte es nicht deuten. Möglicherweise hatte jemand versucht, die Umrisse Europas zu zeichnen. Aber nicht besonders gut, wenn es so wäre. Die Farben waren verschwommen, die Umrisse mit Bleistift nachgezogen, die schimmerten, wenn sie die wenigen Sonnenstrahlen des Herbstes trafen, die ab und zu durch die Jalousie blitzten.

Die Tür ging auf. Die Therapeutin schob Clara im Rollstuhl sitzend heraus, verabschiedete sich, und ich brachte sie wieder in ihr Zimmer. Auf dem Weg zurück nahm ich meinen Mut zusammen, und fragte sie, ob ich noch irgendetwas für sie tun könnte, ob sie einen Wunsch hätte: "Das ist nett von Ihnen. Aber Sie brauchen nichts zu tun. Sie können nichts tun. Sie helfen mir schon, so gut sie können." Sie lächelte. Ich lächelte. Im Zimmer angekommen, halfen die Schwestern Clara in ihr Bett. Sie war müde, die Behandlung hatte viel Kraft gekostet. Die anderen Behandlungen an diesem Tag sollte sie nicht mehr machen. Sie war zu schwach. Das sollte sich die kommenden Tage wiederholen, bis sie irgendwann gar keine Therapien mehr machte. Sie war zu schwach. Wenn man sie darauf ansprach, winkte Clara ab. Sie wollte ihre Ruhe haben, sie hatte Schmerzen. Die meiste Zeit schlief sie. Und wir ließen sie.

An einem Morgen war das gesamte Haus dann wie gelähmt. Niemand brachte ein Wort über die Lippen. Clara war am Vorabend abgeholt und in ein Krankenhaus gebracht worden. Der Krebs forderte seinen Tribut, Clara war gestorben.

"Auf Wiedersehen"

Am Vortag hatte Clara noch "Auf Wiedersehen" zu mir gesagt. Wie immer, wenn mein Dienst zu Ende war. Sie winkte mir, ich winkte ihr. Doch wir wussten beide, dass es diesmal etwas anderes war. Wir würden uns nicht mehr sehen. Aber keiner von uns sprach das Offensichtliche aus oder ließ es sich anmerken. "Wir sehen uns morgen!", entgegnete ich. Sie nickte. Ich nickte. Sie musste ins Krankenhaus. Wir sollten uns nicht mehr sehen.

Wir hatten zwar nur wenige Worte gewechselt, in den zwei Wochen, die wir zusammen verbracht haben. Wir haben allerdings auch nur wenige Worte gebraucht, um uns zu verstehen. Clara wollte Ruhe und Frieden, auch wenn sie das nie aussprechen oder einfordern sollte. Aber ich habe das gespürt und ihr genau das gegeben. Sie war mir auf subtile Weise wohl dankbar dafür. Ihr Mann, der wenig später kam, um ihre Sachen abzuholen, sagte unter Tränen, dass es ihr hier gefallen hätte, wir hätten uns gut um sie gekümmert. Sie hätte nach langer Zeit wieder so etwas wie Lebensfreude verspürt. Er sollte uns das von Clara ausrichten. Das macht stolz.

Mittlerweile ist mein Zivildienst vorbei und in ruhigen Momenten sehe ich Clara direkt vor mir. "Auf Wiedersehen", sagt sie. Immer wieder. Ja, wir sehen uns morgen.

Jan Michael Marchart ist 1993 in Mödling geboren und arbeitet zur Zeit als Redakteur im Österreich-Ressort der "Wiener Zeitung".