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Er gibt, sagt Dr. Rupert Neudeck vom Komitee "Cap Anamur", seinen neuen Mitarbeitern ein Buch mit auf die Reise, quasi als Bibel: "Die Pest" von Albert Camus. Und er zitiert daraus: "Es ist nicht wichtig, alles zu wissen. Es ist wichtig zu helfen." Überall dort, wo Kriege, Bürgerkriege und ethnische Säuberungen Elend, Not und Leiden von Menschen verursachen, muss von aussen helfend eingegriffen werden. Die Frage nach politischen Positionen ist sekundär; jene nach ethnischer Herkunft, nach Religion und Gesinnung, aber auch die nach Schuld und Unschuld der Opfer darf gar nicht erst gestellt werden.
Der Name "Cap Anamur" sagt den meisten Europäern heute wenig bis gar nichts mehr. Es war im Jahre 1978, als vor der Küste Vietnams zigtausende Flüchtlinge in untauglichen Kähnen und Nussschalen im Südchinesischen Meer herumtrieben und vom Tod durch Ertrinken bedroht waren. Der promovierte Philosoph und damalige Rundfunkredakteur Rupert Neudeck sammelte zunächste Unterstützungs-Unterschriften für eine Hilfsaktion, der sich auch Prominente - wie der Nobelpreisträger Heinrich Böll - anschlossen. Es ging um das "Urmotiv der Lebensrettung" für die "Verdammten der Meere" (Freimut Duve). Ein Jahr später war es so weit. Dank grosszügiger Spenden (insgesamt 20 Millionen Mark) konnte ein Frachter (Kosten 210.000.- Mark im Monat) gechartert werden, der zu einem riesigen Rettungsboot umgebaut worden war, und am 9.August 1979 vom japanischen Hafen Kobe aus in See stach. An Bord waren neben der bezahlten Mannschaft Ärzte, Krankenschwestern und sonstige Helfer, welche bereit waren, freiwillig und unentgeltlich zu helfen. Das Schiff hiess (benannt nach einem Hafen in der Türkei) "Cap Anamur", und wurde später in "Port de Lumière" ("Hafen des Lichtes") umgetauft. Das Komitee behielt aber den mittlerweile bekannten Namen des ersten schwimmenden Lazaretts, mit welchem 11.488 Menschen vor dem sicheren Tod durch Ertrinken gerettet werden konnten.
Ermutigt durch diesen Erfolg im Dienste der Humantität, suchten Neudeck und sein Komitee nach neuen Herausforderungen. An kriegsbedingten Katastrophen hat es unserer Welt in den letzten 22 Jahren wahrlich nicht gemangelt. Die Mitarbeiter von "Cap Anamur" wurden in Afrika, Asien, Russland und schliesslich auch am Balkan tätig. Am Prinzip der Organisation hat sich nichts geändert: es gibt nur zwei festangestellte Mitarbeiter in der Zentrale in Köln, dazu zwei "feste ehrenamtliche", und weiters Neudecks Frau Christel, welche die Einsätze koordinieren. Dazu kommen Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, Techniker und Logistiker in den einzelnen Hilfsaktionen, welche sich für sechs Monate verpflichten und unisono 2.000.- Mark brutto im Monat, also quasi ein Taschengeld erhalten. Viele verlängern dennoch ihren Arbeitsvertrag. Durch dieses idealistische Konzept beträgt der Verwaltungskostenanteil im Gegensatz zu vielen anderen Hilfsorganisationen bloss 4,8 %. Bedenkt man, dass das Komitee in den letzten 20 Jahren etwa 255 Millionen Mark an Spendengeldern erhalten hat, so mag man zumindest den ökonomischen Umfang der geleisteten Hilfe ermessen. Und diese Hilfe erfolgt direkt zum Wohl der Betroffenen. Das Prinzip lautet: "Wir geben NIE Geld, wir geben nichts an Regierungen."
Das führt naturgemäss oft zu Problemen und Spannungen mit örtlichen Behörden oder auch internationalen Einrichtungen. Neudeck hat den Ruf, eigenwillig und beharrlich zu sein, ja auch, dass er die politisch, behördlich und organisatiorisch Verantwortlichen nervt. Aber das scheint der Sache zu dienen.
Umfangreich ist die Liste der derzeit betreuten Projekte: In Somaliland werden an der Grenze zum Ogaden Ambulanzen errichtet, in Inguschetien wurde ein Waisenhaus für 90 tschetschenische Kinder errichtet. In den Nuba-Bergen des Süd-Sudan betreut "Cap Anamur" unter extrem schwierigen und lebensgefährlichen Bedingungen ein Projekt zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung. In diesem Camp wurden im Februar dieses Jahres 14 Kinder und eine Lehrerin durch Fliegerbomben getötet; die Ärztin des Komitees musste nach dem Terror-Angriff auf das Camp bei zwei Kindern Amputationen vornehmen.
In Kenia betreut man die Strassenkinder von Nairobi, in Ruanda die Flüchtlinge an der Grenze zum Kongo. Die desaströse Versorgungs-Situation in Nord-Korea ist in Mitteleuropa weitgehend unbekannt. "Cap Anamur" hat umfangreiche Hilfslieferungen organisiert, und half dabei, fünf Krankenhäuser zu reorganisieren. Dazu engangiert man sich seit heuer in weiteren drei Waisenhäusern und fünf Spitälern. Der persönliche Einsatz der Mitarbeiter des Komitees geht so weit, dass in einem der nordkoreanischen Spitäler ein Arbeiter, der bei einem Unfall schwerste Brandwunden erlitten hatte, durch die Hautspende eines Arztes und eines Helfers gerettet werden konnte.
Aber diese Schauplätze sind zu weit weg vom Bewusstsein der Mitteleuropäer. Deshalb sei auch noch erwähnt, dass "Cap Anamur" im Kosovo und Bosnien Wiederaufbau-Projekte betreut, und dabei Hilfe zur Selbsthilfe leistet. Es wird einfach Baumaterial für die zerstörten Häuser angekauft, geliefert und verteilt. So wurden bislang über 5.000 Gebäude von den Kosovaren und Bosniern selbst wieder aufgebaut, dazu 16 Schulen und Ambulanzen errichtet. Auch die Anschaffung von Müllfahrzeugen, Spielzeug, Hörgeräten für hörgeschädigte Kinder und die Errichtung von Ausbildungszentren für Jugendliche gehören zur "Produktpalette" der Hilfsleistungen.
Ebenso engagiert man sich bei der Entminung - und überhaupt international für ein Verbot der Herstellung und des Einsatzes von Landminen. Dass das Komitee darüber hinaus im Kosovo auch Särge für die Toten aus den Massengräbern beschafft hat, ist als Beitrag zur Trauerarbeit zu verstehen. Weitgehend unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit wurde unlängst Rupert Neudeck der mit 25.000.- SFr- dotierte "Peter Surava Preis" für Verdienste um Verfolgte, Notleidende und Entrechtete verliehen. Diese Auszeichnung wird im zwei Jahres Rhythmus vom P.E.N.-Club Liechtenstein vergeben. Benannt ist der Preis nach dem Schweizer Schriftsteller und Journalisten Peter Surava, alias Peter Hirsch, der, in Konsequenz für sein selbstloses Engagement für die Schwachen und Entrechteten während der Kriegsjahre und der Nazizeit, in der Schweiz dann selbst jahrzehntelang schwersten Verfolgungen und persönlichen Demütigungen ausgesetzt war, die ihn zwangen, seine Arbeit unter verschiedenen Pseudonymen auszuüben.
Surava, der sich als Chefredakteur der "Nation" und später des "Vorwärts" für die ausgebeuteten Wanderarbeiter, das Frauenwahlrecht, und für politisch Verfolgte einsetzte, der 1943 als einer der ersten europäischen Publizisten den Holocaust enthüllte und anprangerte, wurde in der Schweiz mit Berufsverbot belegt. Er starb 1995 im Alter von 83 Jahren. Erst wenige Jahre vor seinem Tod wurde er wieder in Öffentlichkeit rehabilitiert. Er war das Opfer des von ihm angeklagten, saturierten Bürgertums und der von diesem abhängigen Politiker, welche in unheiliger Allianz nichts anderes im Sinne hatten, als sich ohne Rücksicht auch Menschenrechte zu bereichern und diesen Reichtum verbissen gegenüber den Notleidenden und Entrechteten zu verteidigen.
Ähnlich sieht auch Rupert Neudeck die Rolle des wohlhabenden Europas als Ausbeuter der sogenannten "Dritten Welt" und der ärmeren Länder. Er spricht von einer unfassbaren, elitären und dummen Arroganz. Die Tüchtigkeit, der beispielhafte Fleiss der Europäer sei ein Mythos, erfunden von jenen, welche sich nicht den Kopf zerbrächen, woher ihr Reichtum und Luxus denn eigentlich stamme, womit dieses privilegierte Leben finanziert werde. Jede Dinka-Mutter, so Neudeck, leiste mindestens ebensoviel wie eine deutsche Hausfrau, wenn nicht mehr, weil sie täglich bis zu fünf Stunden zu einer Wasserstelle unterwegs sei, nur um die Familie mit Trinkwasser zu versorgen. Der Unterschied, so der Begründer des Komitees "Cap Anamur" bestünde auch darin, dass jeder mittelprächtig versicherte Europäer bei gesundheitlichen Problemen im Ausland die Ärzteflugambulanz in Anspruch nehmen könne, die ihn ins beste Spital seines Wohnortes bringt, während die Menschen in Afrika oder Asien oft nicht einmal die Chance haben, an ihrem Wohnort rechtzeitig mit Medikamenten, Impfstoff oder Verbandszeug versorgt zu werden.
Armut schändet nicht. Die Schande liegt bei denen, die ihren Wohlstand nicht mit jenen Armen teilen, denen sie ihn mit verdanken.
Dr. Rupert Neudeck ist streitbar. Und deshalb nicht unumstritten. Auch sein Führungsstil wird manchmal als autoritär bezeichnet. Was dieser Mann aber in selbstloser Weise an effizienten Hilfsleistungen auf die Beine gestellt hat, rechtfertigt sein kompromissloses Vorgehen und verdient sowohl persönlichen Respekt als auch die Verleihung des "Peter-Surava-Preises" für aussergewöhnliche humanitäre Leistungen.
Das Credo des Mannes, der - in Danzig geboren - selbst als Flüchtlingskind aufgewachsen ist, lautet: "Man kann Verantwortung nicht auf andere abschieben, solange man sie selbst hat.". Und: die Rettung tausender Menschenleben ist nur gelungen, weil vor 22 Jahren die "Cap Anamur" dank der kohlhaas'schen Sturheit Neudecks ihre Arbeit ohne seerechtliche Genehmigung aufgenommen hat.