Mehr als ein Jahr nach Kriegsbeginn in der Ukraine beginnt sich Europa neu zu sortieren.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es war am 27. Februar 2022: Drei Tage nach Russlands großem Überfall auf die Ukraine spricht Deutschlands Kanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag von einer "Zeitenwende". Aber es hat ein Jahr gedauert, bis Deutschland die Konsequenzen daraus zog und Panzer an die Ukraine schickte, es hat ein Jahr gebraucht, dass sich die EU dazu durchrang mit EU-Budgetmitteln Munition zu beschaffen. Und in Österreich: Da gab es bis heute keine nennenswerten Folgen.
Zwar werden die Sanktionen mitgetragen, zwar legt man sich nicht quer. Aber zuletzt bezog Österreich wieder rund 80 Prozent seines Gases aus Russland, das Engagement der Raiffeisen-Bank in Russland hat volle politische Rückendeckung und eine Neutralitätsdebatte gab es nicht. Es sei Zeit, aufzuwachen, so Ex-Außenministerin Ursula Plassnik bei einer Diskussion der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik. Es sei eine Sache, aufzuwachen, aber eine andere, auch aus dem Bett zu steigen, so der bulgarische Politologe Ivan Krastev dazu.
Zerstörtes Fundament
Russlands Entscheidung für den Krieg hat alles auf den Kopf gestellt auf dem europäischen Kontinent: Sicherheitspolitik, Handel, Wirtschaft. Zerstört sei das Fundament dieses Kontinents, die rechtsbasierte Ordnung, nicht, so der Vertreter der EU-Kommission in Wien, Martin Selmayr. Denn wäre sie zerstört, hätte Russland gewonnen. Aber der Krieg habe nach der Pandemie einmal mehr gezeigt, wie abhängig Europa von internationalen Märkten Europa ist, was Energie, Konsumgüter, wichtige Rohstoffe angeht. Die Zwickmühle daran: Der Wohlstand dieses Kontinents beruht ausschließlich auf Kooperation, wie Selmayr sagt: "Wenn wir nicht kooperieren, ist dieser Wohlstand in Gefahr."
Vor allem aber eines hat sich verändert mit Russlands Krieg, wie Krastev sagt: "Europa hat sein Alleinstellungsmerkmal in der Welt als Kontinent verloren, auf dem es keine Kriege mehr gibt." Mit einem Mal sei Europa wie alle anderen auch. Und in einem globalen Kontext betrachtet, die chinesisch-amerikanischen Reibereien miteinbezogen: Mit einem Mal sei Europa zwar durch und durch sehr auf sich selbst bezogen, aber keinesfalls mehr der Kontinent, auf den sich alles beziehe. "Wir sind nicht mehr der Hauptschauplatz", so Krastev.
Und damit stehe alles in Frage: Die Europäische Sicherheitsarchitektur zum Beispiel - wobei die Frage der Sicherheit von der EU praktisch an die Nato ausgelagert worden sei. Die Basis der EU ist die Idee eines Friedensprojekts. In die Rolle eines globalen Players ist die EU eher hineingerutscht. Und wie Krastev es ausdrückt, sei Europa da in der gegenwärtigen Lage gewissermaßen Opfer seines eigenen Erfolges: "Wir waren so erfolgreich damit, Europa zu befrieden, dass Krieg nicht mehr Bestandteil des Sozialvertrages zwischen Staat und Bürgern ist." Dieses Problem lasse sich auch nicht alleine mit Budgettöpfen lösen. Militär werde als etwas betrachtet, das man nicht sehen und mit dem man nichts zu tun haben wolle.
Europäische Sicherheitspolitik habe laut Krastev bisher so ausgesehen: Man baut eine Pipeline. Nord Stream sei nichts anderes als ein Sicherheitsprojekt gewesen: Ein Versuch, Russland über Gas-Absatzmärkte in eine europäische Werteordnung zu holen - was sich letztlich als Symbol für die eigene Verletzlichkeit entpuppt hat. "Wir sind aufgewacht und wir haben zumindest einen Fuß aus dem Bett", sagt Selmayr. Zeitenwende bedeute, dass man aus dem Bett steigen und beginnen müsse, zu handeln.
Österreich langsamer
Das passiere auch zu einem Teil bereits: Was die Beschaffung von Munition für die Ukraine angehe etwa. Aber es gelte letztlich Europas Beziehungen nach außen politisch wie wirtschaftlich neu aufzustellen. Diversifizierung der Partner eben, darum gehe es jetzt. Und um die Einsicht mitsamt den daraus gezogenen Schlüssen, dass man es im Osten auf sehr lange Zeit mit einem sehr unfreundlichen Nachbarn zu tun haben werde.
Für ihn, so Selmayr, sei es jedenfalls unbegreiflich, dass in Wien gegen das Handelsabkommen Mercosur demonstriert werde, bei dem es eben genau um die Diversifizierung der internationalen Handelsbeziehungen der EU gehe, aber nicht gegen die nach wie vor 80-prozentige Gas-Abhängigkeit Österreichs von Russland. In diesem Sinne sei Österreich um einiges langsamer als der Rest Europas. "Wir sind am Aufwachen", wie es Ursula Plassnik ausdrückt. Aber es dränge. Um international ernst genommen zu werden, müsse man auch eben so auftreten. Die EU aber lerne ihre Lektionen gerade, mache sich daran, sich weiterzuentwickeln.
Neutralität als "Religion"
Wobei Selmayr die Neutralität Österreichs prinzipiell nicht als Hindernis in der EU betrachtet - wenn auch nicht als großen Mehrwert. "Mit Neutralität ist es so wie mit Schönheit: Sie liegt in den Augen der anderen", sagt Krastev dazu. Und er fragt rhetorisch: "Glaubt Österreich denn wirklich, es sei ein neutrales Land? Und glaubt Österreich tatsächlich auch, Russland betrachte Österreich als neutrales Land?"
Man müsse Sigmund Freud fragen, wieso Österreich nicht getan habe, was Schweden oder Finnland getan haben, sagt Ursula Plassnik dazu. Sie nennt Österreich "monotheistisch, und die einzige Religion an die Österreicher glauben, ist die Neutralität".
Dabei sei es die Kernaufgabe des Staates, die Bürger zu schützen. Und die Neutralität sei eben keine Tarnkappe, unter der man sich verstecken könne und die einen unsichtbar und unverletzlich mache. Der Wunsch, zurück ins Bett zu gehen und sich unsichtbar zu machen, sei jedenfalls keine Lösung.