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"Wir sind die Roboter!"

Von Uwe Schütte

Reflexionen

Die deutsche Band Kraftwerk hat das moderne Konzept der Einheit von Mensch und Maschine im Lauf der Jahrzehnte zur ästhetischen und theoretischen Perfektion gebracht.


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Am hohen ästhetischen Rang des Gesamtkunstwerks Kraftwerk ist spätestens seit den jeweils acht Abende umfassenden Auftritten im New Yorker MoMA oder in der Turbinenhalle des ehemaligen Londoner Kraftwerks, das jetzt als Tate Modern fungiert, kaum zu zweifeln. Diese residencies waren eindrucksvolle Präsentationen des acht Alben umfassenden "Katalog" (so der Name des Box-Set von 2009, der die Hauptwerke von "Autobahn", 1974, bis "Tour de France Soundtracks", 2004, enthält.)

Überwältigende Effekte

Kraftwerk spielen mittlerweile ihre in jahrelanger Arbeit akribisch digitalisierte Musik nicht nur auf den allermodernsten Musikmaschinen, sie haben auch ein brandneues Spatial-Sound-Wave-System aus den Fraunhofer-Laboratorium dabei, das die Stücke aus über 30 Lautsprechern ausstrahlt, stets an die Klangeigenschaften des jeweiligen Konzertraums angepasst. Durch die akustische Technologie der Wellenfeldsynthese entstehen virtuelle Soundquellen, die sich gezielt bewegen lassen. Das klingt zunächst recht akademisch, doch wenn der Trans-Europa-Express aufs Publikum zudonnert, möchte man instinktiv wegspringen, um nicht überrollt zu werden.

Solch überwältigende Effekte entstehen auch deshalb, weil die Filmprojektionen sich nicht mehr hinter den Musikern abspielen, sondern durch die auf dem neuesten Stand befindliche 3D-Projektionsanlage auch die visuelle Illusion von Räumlichkeit erzeugt wird. Die taktgenau synchronisierten Filmsequenzen ergänzen und kommentieren die Musik; im Grunde sind sie eigene Kunstwerke und als solche wurden sie auch unlängst in Galerien bzw. Museen in München und Berlin ausgestellt.

Als "Musikgemälde" bezeichneten Kraftwerk den Dreiklang aus Musikmaterial, Sound- und Videoprojektion schon vor vielen Jahren. Doch spätestens in den letzten zwei Jahren hat die Band durch ihre technische Aufrüstung ein Niveau erreicht, das über konventionelle Popmusik-Konzerte hinausreicht und Kunstinstitutionen wie das Sydney Opera House vor zwei Jahren, 2014 das Wiener Burgtheater und 2015 die Berliner Neue Nationalgalerie als Aufführungsorte nahelegt.

Der Werbeslogan "Vorsprung durch Technik" lässt sich insofern auch auf diese Band anwenden, zumal das Kraftfahrzeug in Kraftwerks konzeptionellem Kosmos ohnehin eine Sonderstellung einnimmt. "Autobahn" (1974) markiert nicht weniger als den entscheidenden Paradigmenwechsel in der Entwicklung der Gegenwartsmusik, vergleichbar nur dem Schritt, mit dem Elvis die Musik der Schwarzen für ein weißes Publikum sang.

1970 wurden Kraftwerk von Ralf Hütter und Florian Schneider in Düsseldorf gegründet. Dass bis 1973 immerhin drei Alben erschienen sind, will freilich nicht ganz zum Mythos der Band als Urheber einer "industriellen Volksmusik" (Hütter) - quasi als creatio ex nihilo - passen.

Verdrängte Anfänge

Kraftwerk haben die beiden titellosen Alben mit den Straßenpylonen sowie die Platte "Ralf und Florian" als "Archäologie" abgetan. Sie überlassen es Raubkopierern, die Alben auf CD zu vertreiben. Zu schämen braucht sich die Gruppe für ihr Frühwerk allerdings nicht, weshalb sie die Geschäftemacherei der Bootlegger offenkundig bewusst duldet. (Immerhin ein einmaliger Vorgang, zumindest bei einer Band von Kraftwerks Format!)

Eine derartige Ausgrenzung der künstlerischen Anfänge ist kein Einzelfall. Der Maler Francis Bacon tat zum Beispiel dasselbe, nachdem ihm 1944 mit "Three Studies for Figures at the Base of a Crucifixion" ein sensationeller Durchbruch beschert wurde. Damit das Bild den Status einer originären Schöpfung, gleichsam einer künstlerischen Geburt des Malers, gewinnen konnte, kaufte Bacon alle zuvor gemalten Bilder zurück und zerstörte sie.

Gesamtkunstwerk

Kraftwerk signalisieren durch ihr Verhalten, dass sie die Deutungshoheit über ihr Werk beanspruchen, welches mithin als ein Gesamtkunstwerk zu verstehen ist. Die Konsequenz daraus ist, dass das Museum als Kanonisierungsinstanz von Kulturprodukten der gemäße Ort zur Präsentation von "Katalog" ist. Zugleich melden Kraftwerk damit den Anspruch an, dass es ihre Alben jenseits eines allein popmusikalischen Kontextes zu verstehen gilt. Bahnbrechend, nicht nur in musikalischer Hinsicht, ist jede der von 1975 bis 1981 erschienenen Platten. Was hingegen das künstlerische Gesamtkonzept betrifft, so sticht ein Album heraus, nämlich das im April 1978 veröffentlichte "Die Mensch-Maschine". Mit "Das Modell" enthält die Platte den einzigen Nummer-Eins-Hit der Band. Wichtiger noch sind aber "Die Roboter" und der Titeltrack, von denen "Mensch-Maschine" programmatisch eingerahmt wird.

Das vielgerühmte, von dem Grafikdesigner Karl Klefisch gestaltete Cover ist visuell stilprägend gewesen für die Band; nicht nur Kraftwerk-Fans laufen in rotem Hemd mit schwarzer Krawatte herum, das konstruktivistische Design hat eine erstaunliche Karriere in der Populärkultur erlebt. (Zuletzt wurde das ikonische Design vom Ersten Wiener Heimorgel-Orchester kopiert.) Es zeigt die vier Bandmitglieder - damals sozusagen in der Originalbesetzung von Karl Bartos, Wolfgang Flür, Ralf Hütter und Florian Schneider - roboterhaft auf einer Stiege stehend. Dies wiederum ist eine Anspielung auf das Bauhaus, da man unwillkürlich an Oskar Schlemmers berühmtes Gemälde "Bauhaustreppe" von 1932 denkt.

Das 1919 von Walter Gropius gegründete Bauhaus ist eine starke Inspirationsquelle für Kraftwerks Kunstkonzept. Das zentrale Projekt des Bauhauses bestand darin, Kunst und Handwerk funktionell miteinander zu verschmelzen. Kraftwerk knüpfen an das von den Nazis 1933 gewaltsam unterbrochene Experiment an, indem ihr Gesamtkunstwerk sich zum Ziel setzt, Kunst und Popmusik, Mensch und Maschine miteinander zu vereinigen.

Unübersehbar sind die Anleihen am Werk des sowjetischen Designers El Lissitzky, der mit der Arbeit des Bauhauses eng verbunden war. Zwar wirken Kraftwerk in ihren Uniformen und der Roboterpose auf den ersten Blick durchaus wie eine paramilitärische Einheit faschistischer Prägung, doch die prädominante rote Farbe, der Blick in Richtung Osten, die russische Schrift auf dem Cover und der visuelle Rückgriff auf den kommunistischen Grafiker sprechen eine deutliche Bild-Sprache.

Das war ein mutiges politisches Signal, zumal sich Deutschland kurz nach der Staatskrise 1977 (Flugzeugentführung in Mogadishu, Selbstmord der Baader-Meinhof-Gruppe, Ermordung des Arbeitgeberpräsident Schleyer) auf dem Höhepunkt der Terrorismushysterie befand.

Allerdings gilt es, ähnlich wie bei der Gruppe Laibach, nicht alles "wörtlich" zu nehmen, denn Kraftwerk wollten sich kaum als Sympathisanten der Roten Armee Fraktion zu erkennen geben. Vielmehr geht es hier um eine subtile kunstgeschichtliche Anspielung: "Mensch-Maschine" beschwört eine besondere Konstellation, nämlich den zuvor im sowjetischen Konstruktivismus unternommenen Versuch, eine Verbindung herzustellen von revolutionärer Kunst und revolutionärer Politik durch das revolutionäre Konzept einer elektronischen Zukunftsmusik. Oder konziser gesagt: Es geht nicht um Kommunismus, sondern um soziale Utopie - die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Aus solcher Hoffnung ergab sich für Kraftwerk die Notwendigkeit, den Blick zurückzurichten, zumal auf solche Aspekte der Kulturgeschichte, in denen - heute überholte - Zukunftsvisionen entworfen wurden. So wie etwa Fritz Langs Film "Metropolis" (1927), dem ersten Science-Fiction-Film. Vor allem die futuristische Architekturvision der Megapole hatten es Hütter und Scheider angetan. Kein Wunder: Ersterer hatte Architektur studiert, während letzterer der Sohn eines der berühmtesten Architekten des Rheinlands war. (Der Designer Klefisch baute in ihrem Auftrag eine Zukunftsstadt aus Styropor nach, die dann kurz im Video zu "Trans-Europa Express" zu sehen ist.)

Politische Ambivalenz

"Metropolis" ist heute zwar als cineastisches Meisterwerk anerkannt, doch zur Entstehungszeit wurde der Film sowohl als künstlerisch misslungen betrachtet wie als politisch dubios verurteilt. Letzteres zu Recht: Siegfried Kracauer verdammte ihn in seinem Buch "Von Caligari zu Hitler" (1947) als "proto-faschistisch", denn der Aufstand der proletarischen Massen wird ausgebremst durch die Intervention des "Vermittlers", in welchem Kracauer eine verkappte Hitler-Figur erkennt, die die beiden antagonistischen Klassen zusammenführt. Der Film ist so von einer Ambivalenz geprägt, die emblematisch ist für das deutsche Kulturerbe, an das Kraftwerk nach dem Krieg wieder anknüpften, um eine Zukunftsmusik zu machen, die zwar eine optimistische Botschaft verbreitet, aber den dunklen Aspekten der deutschen Kultur eingedenk bleibt.

Die konstitutive Ambivalenz im Werk von Kraftwerk zu erkennen ist in mancher Hinsicht der Schlüssel zum Verständnis des künstlerischen uvres. Schon "Autobahn" verbindet Nazi-Vergangenheit und bundesrepublikanischen Aufbruchsgeist. Dem Albumtitel "Radio-Aktivität" wiederum ist die Spannung zwischen Nuklearenergie und Musikunterhaltung bereits durch den Bindestrich eingeschrieben, wie auch der Volksempfänger auf dem Cover erneut auf den Nationalsozialismus verweist, der stellvertretend steht für die Gefahren, welche die kontrollierte Entfesselung der Atomkraft und der propagandistische Missbrauch von Massenmedien in sich bergen.

Die zentrale Figuration der Mensch-Maschine, als welche Hütter das künstlerische Projekt von Kraftwerk bezeichnet hat, ist ebenso von einer offensichtlichen Spannung zwischen Entgegengesetztem geprägt.

Das Konzept einer Verschmelzung von Mensch und Maschine, wie sie uns exemplarisch im Phänomen des Roboters begegnet, ist natürlich eine eminent moderne Vorstellung, weist aber kulturgeschichtlich ebenso zurück auf den 1747 publizierten Traktat "Mensch-Maschine" von Julien Offray de La Mettrie, der einen veritablen Skandal auslöste. Die polemische Schrift positionierte sich gegen die unheilige Allianz aus Kirche, Staat und Gesellschaft, indem sie die radikal materialistische Sicht einer Einheit von Körper und Seele vertrat.

Entgegen der traditionellen Sichtweise einer Trennung von Leib und Seele - die jeweils den Verfügungsgewalten Wissenschaft und Theologie vorbehalten waren - insistierte La Mettrie nicht nur auf einer monistischen Einheit, sondern verglich den menschlichen Organismus mit einer (biologischen) Maschine. Damit war La Mettrie, dessen häretische Schrift bald verbrannt wurde, seiner Zeit weit voraus; eine Eigenschaft, die man auch den in der zweiten Hälfte der 1970er veröffentlichten Alben von Kraftwerk wird zubilligen dürfen.

Kraftwerk nehmen die frühaufklärerische Idee insofern auf, als auch Hütter stets darauf verweist, dass die verwendeten Musikmaschinen eine "Seele" haben; gerade dies ermöglicht die im Prozess der Arbeit an der synthetischen Klangerzeugung erfolgende Verschmelzung von Mensch und Maschine. Dabei wird eine positiv wirkende Synthese beschworen, die in symbiotischer Weise die Fähigkeiten beider Partner verstärkt: "Die Maschinen sind Teil von uns und wir sind Teil der Maschinen. [. . .] Wir sind Brüder. Sie sind nicht unsere Sklaven. Wir arbeiten zusammen, helfen uns gegenseitig, um Musik zu machen."

Bezauberungskraft

Solche Aussagen könnte man als gestelztes Gerede abtun, würde nicht Kraftwerks bahnbrechende Musik einen zwingen, die Idee der Düsseldorfer Mensch-Maschine durchaus ernst zu nehmen. Denn die Stücke von Kraftwerk sind faszinierenderweise deutlich technoid und mechanisch, zugleich aber alles andere als unbeseelt oder kalt. Das ist ja auch der primäre Grund, warum die Alben selbst nach 40 Jahren keinen Deut an Bezauberungskraft verloren haben. Eher im Gegenteil. Die futuristische Musik aus den späten Siebzigern ist der Soundtrack unserer Gegenwart geworden, wie auch die damals gemachten Vorhersagen über die Digitalisierung unseres Alltags samt Datenüberwachung durch staatliche Agenturen sich mittlerweile auf das Unheimlichste bewahrheitet haben.

Auch solch prophetische Kraft rückt das Konzept der Mensch-Maschine ein weiteres Mal in den Mittelpunkt des Kraftwerkschen Projekts, markiert das 21. Jahrhundert doch nicht nur den Anbruch einer Ära allumfassender Kommunikationstechnologie, es wird auch das Jahrhundert sein, in dem eine letztendlich demokratisch unkontrollierbare Proliferation von Technologie zur Manipulation des menschlichen Genoms das Zeitalter des Post-Humanen einläuten wird.

Allein deshalb schon lohnt sich ein Blick auf die kulturhistorischen Wurzeln von Kraftwerks Meilenstein Mensch-Maschine - denn wie Marx wusste, wiederholt sich die menschliche Geschichte "das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce". Und wie es im Zeitalter des Post-Humanen weitergeht mit der menschlichen Spezies, ist alles andere als gewiss. Kraftwerks vitalen Optimismus über die Chancen einer Mensch-Maschinen-Figuration werden wir daher durchaus gebrauchen können, um der Zukunft mit einer ambivalenten Haltung entgegenzusehen, wie sie der DDR-Dramatiker Heiner Müller nach dem Ende des Sozialismus einmal formulierte, nämlich "ohne Hoffnung, ohne Verzweiflung".

Uwe Schütte ist Dozent für Deutsche Literatur an der Aston University in Birmingham. Vor kurzem konzipierte und organisierte er an der Aston University ein Symposium über die künstlerische Bedeutung von Kraftwerk.