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"Wir sind eine Copy-Paste-Demokratie"

Von Alexander Dworzak

Politik

Schweizer Nationalrätin Christa Markwalder über fehlende europäische Mitsprache und ihre Einsamkeit als EU-Befürworterin.


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Wien. Es ist politisch keine einfache Zeit für Christa Markwalder. Die Schweizer Politikerin der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) tritt offen für die EU-Mitgliedschaft ihres Landes ein. Derzeit sind Union und Schweiz jedoch weit voneinander entfernt: Die Bevölkerung stimmte im Februar bei einem Referendum mit knapper Mehrheit für die Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung" der national-konservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP). Damit würde nicht nur der freie Personenverkehr eingeschränkt und die Einwanderung künftig durch Kontingente geregelt. Mehrere bilaterale Verträge stehen auf der Kippe. Blockiert sind bereits Verhandlungen über Forschungsprojekte und das Media-Abkommen. Und Schweizer Studenten des Austauschprogramms Erasmus erhalten künftig ihre Förderungen nicht mehr aus Brüssel, sondern aus Bern.

"Wiener Zeitung": Wie einsam fühlen Sie sich als Befürworterin eines EU-Beitritts der Schweiz derzeit?Christa Markwalder: Ziemlich einsam, auch innerhalb meiner Partei - insbesondere in der Deutschschweiz, während es im französischsprachigen Teil traditionell mehr EU-Anhänger gibt. Allerdings waren überall in Europa die Zustimmungsraten zur Union schon höher. Die EU verliert an Wertschätzung bei den Bürgern, insbesondere durch die Schuldenkrise in den südlichen Ländern. Ich bin und bleibe aber eine überzeugte Pro-Europäerin.

Woraus speist sich Ihre Anhängerschaft zur EU?

Die europäische Integration hat diesem Kontinent so viel gebracht und Chancen ermöglicht, die wir ansonsten nicht hätten. Die Schweiz ist ein typisch europäisches Land. Daher bedauere ich es, im Mai von den EU-Wahlen ausgeschlossen zu sein.

Die EU steckt auch in einer institutionellen Krise - und das institutionelle Gefüge ist für Schweizer ein Reizthema. Wie könnte die Schweiz innerhalb der EU Gehör finden?

Die Schweiz ist ein Paradoxon. Wir sind sehr stolz auf direkte Demokratie und Volksentscheidungen. Andererseits verzichten wir freiwillig auf Stimmrechte in europäischen Institutionen. Ironisch gesprochen ist die Schweiz eine Copy-Paste-Demokratie: Wir übernehmen gleich viel europäisches Recht wie das EU-Mitglied Österreich - haben aber keinen Einfluss auf dessen Zustandekommen. Das ist aus Souveränitätssicht unbefriedigend.

Beim angeblichen Demokratiedefizit der EU wird übersehen, dass die Kompetenzen des Europäischen Parlaments in den vergangenen Jahren enorm gestärkt wurden. Das betrifft auch die Schweiz: Wenn wir bilaterale Verträge abschließen, haben nicht Kommission oder Rat, sondern hat das Parlament das letzte Wort.

Dennoch haben sich die Schweizer mit der Annahme der SVP-Zuwanderungsinitiative von Europa entfernt. Warum?

Erstens: Die Schweizer haben in der Vergangenheit bei Volksabstimmungen immer die Personenfreizügigkeit unterstützt. Jetzt lag jedoch ein abstrakter Initiativtext vor, der mit der Personenfreizügigkeit kollidiert. Das Argument war, die Steuerung der Einwanderung nicht mehr dem Arbeitsmarkt zu überlassen, sondern an die Politik zurückzugeben. Zweitens fürchtet der Mittelstand die Konkurrenz durch Hochqualifizierte aus dem Ausland. Drittens herrschte Verunsicherung ob einer Verbauung der Landschaft. Offenbar fand das plakative Argument der SVP Gehör, dass jedes Jahr die Einwohnerzahl von St. Gallen in die Schweiz einwandert und damit Platz und Infrastruktur braucht.

In den Ballungsräumen, wo die Mehrzahl der Ausländer in der Schweiz leben, wurde die SVP-Initiative mehrheitlich abgelehnt. Außerhalb davon verhielt es sich umgekehrt. Wie erklären Sie sich das?

Das ist ebenfalls ein Schweizer Paradoxon. Die Unterstützung zur Personenfreizügigkeit ist in den Agglomerationen weggebrochen. Im Vergleich zur Volksabstimmung 2009, in der es um die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Rumänen und Bulgaren ging, lag die Zustimmung in den Vorortgemeinden nun um 15 Prozent niedriger. Und in konservativen Landkantonen, in denen Angst um die Landschaft und vor zu vielen Zuwanderern herrscht, war das entscheidend.

Eine weitere Sorge war jene des Wohlstandsverlustes durch die Konkurrenz aus dem Ausland. Wie viel Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verträgt die Schweiz?

Ich bin eine vehemente Befürworterin von Wettbewerb und Konkurrenz. Die Schweiz hat in den vergangenen Jahren internationale Spitzenplätze in puncto Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft eingenommen. Offensichtlich hat uns also der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt genutzt und wir konnten Talente anziehen. In die Schweiz kommen in der Regel hochqualifizierte Personen plus jene, die saisonweise im Tourismus und in der Landwirtschaft arbeiten. Dass sich das Land während der weltweiten Krise so gut gehalten hat, verdankt die Schweiz auch dem konstanten Binnenkonsum, den die Zuwanderer angekurbelt haben.

Die SVP bemängelte vor allem Lohndumping durch Ausländer . . .

Es gibt kein generelles Lohndumping, aber zusätzliche Konkurrenz und vereinzelt Probleme, etwa im Tessin, wo italienische Grenzgänger bereit sind, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten.

Im Tessin stimmten mehr als zwei Drittel der Bürger für die Zuwanderungs-Beschränkung, bundesweit waren es nur 50,3 Prozent. Sogar die dortigen Grünen paktierten in der Frage mit der SVP.

Seit Jahren besteht dort ein Spannungsverhältnis mit Italien. Und die Tessiner fühlen sich manchmal auch von den übrigen Schweizern im Stich gelassen. Interessant ist, dass im frankophonen Genf mit ähnlich vielen Grenzgängern wie im Tessin deutlich gegen die SVP-Initiative gestimmt wurde.

Wie geht es nach der Abstimmung weiter?

Wir stehen vor der Quadratur des Kreises, entweder unsere Vereinbarungen mit der EU oder den Volkswillen zu brechen. Der Schweiz wird der Volksentscheid richtig wehtun, standortpolitisch und in Sachen Image. Ich fürchte Betriebsabsiedelungen. Weniger den großen Exodus, aber sukzessive Abwanderung.

Zur Person

Christa
Markwalder

ist zweite Vizepräsidentin des Schweizer Nationalrats, der großen Kammer des Parlaments, und seit 2003 Abgeordnete der FDP.