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"Wir sind eine strafsüchtige Nation"

Von Gabriele Chwallek

Politik

Gesetzesverschärfungen füllen die Haftanstalten. | Jeder 32. US-Bürger war schon hinter Gittern. | Washington. (dpa) Das Staatsgefängnis Angola im US-Bundesstaat Louisiana hat eine eigene blühende Bestattungsindustrie. Ein Häftling baut Särge, andere legen sie mit Stofffutter aus, und wieder andere organisieren die Beerdigungszeremonien. Man ist stark beschäftigt hier, denn die meisten der gut 5000 Gefangenen verbüßen lebenslange Strafen, und das bedeutet, dass mehr als 90 Prozent von ihnen hinter Gittern sterben werden.


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Die Dauer der Haft wiederum bringt es mit sich, dass viele der immer älter werdenden Häftlinge den Kontakt zur Außenwelt verloren haben und ihre letzte Ruhestätte auf dem Gefängnisgelände finden. Bevor es so weit ist, werden die gebrechlichen und kranken Alten in einer eigenen geriatrischen Abteilung betreut und die Sterbenden in einem Hospiz - zwei Einrichtungen, die es mittlerweile auch in vielen anderen US-Gefängnissen gibt. Das wiederum bedeutet eine Kostenlawine: Eine solche Intensivbetreuung kostet pro Kopf etwa 45.000 Euro im Jahr - das Dreifache der Aufwendungen für einen gesunden Gefangenen.

Und das Problem dürfte sich noch verschärfen, denn die Staats- und Bundesgefängnisse in den USA sind voller denn je. Eine jüngste Statistik des Justizministeriums in Washington zeigt: Die USA sind Weltmeister im Inhaftieren. Demnach saßen hier Ende 2005 insgesamt fast 2,2 Millionen Menschen hinter Gittern, gut 56.000 oder 2,6 Prozent mehr als im Jahr davor. Auf 100.000 Einwohner kommen also 738 Häftlinge, und das sichert den USA die Spitzenreiterrolle vor Russland mit 611 pro 100.000 Bürgern. Zum Vergleich: In Großbritannien liegt die Rate bei 148 und in Frankreich bei 85.

Laut dem "Sentencing Project", einer Organisation, die sich für umfassende Strafrechtsreformen in den USA einsetzt, saßen Ende 2005 in den Vereinigten Staaten insgesamt mehr als sieben Millionen Menschen entweder hinter Gittern, waren auf Bewährung frei oder wurden begnadigt. Das ist jeder 32. US-Bürger. Und jeder 23. Inhaftierte ist älter als 55 Jahre - ein 85-prozentiger Anstieg gegenüber 2005.

Three strikes and you are out

Auf eine Zunahme der Kriminalität kann die Entwicklung nicht zurückgeführt werden, wie Kara Gotsch vom "Sentencing Project" betont. Sie verweist darauf, dass die Verbrechensrate seit 1991 im Fallen begriffen ist und den niedrigsten Stand seit den sechziger Jahren erreicht hat, während im selben Zeitraum die Zahl der Inhaftierten um 50 Prozent anstieg.

Überfüllung und Überalterung seien damit ganz klar auf Strafverschärfungen im Laufe der vergangenen 20 Jahre zurückzuführen, sagt Gotsch. "In keinem anderen Land gibt es so viele extrem lange Haftstrafen wie bei uns. Wir sind eine strafsüchtige Nation."

Gotsch verweist unter anderem auf Gesetze in mehreren US-Bundesstaaten, die bei einer dritten Straftat nach zwei vorausgegangenen Verbrechen mit Gewaltanwendung lebenslange Haft vorschreiben. Die umgangssprachlich als "Three strikes and you are out" bekannte Regelung kommt auch dann zu Anwendung, wenn es sich beim dritten Mal nur um Ladendiebstahl handelt.

Als weiteren Grund dafür, dass die durchschnittliche Haftdauer beispielsweise zwischen 1995 und 2001 etwa um 30 Prozent höher lag als im Sechs-Jahres-Zeitraum davor, nennt Gotsch die starke Zunahme gesetzlicher Vorschriften für Mindeststrafen. Richter hätten hier kaum noch Spielräume - vor allem bei Drogendelikten. So bringt der Besitz von fünf Gramm Crack-Kokain - das entspricht in etwa der Menge von zwei Zuckerpäckchen für den Kaffee - den Ertappten unweigerlich fünf Jahre hinter Gittern. Besonders besorgt sind Bürgerrechtsorganisationen aber auch über die ethnische Ungleichverteilung bei den Hafturteilen.

Der jüngsten Statistik des Justizministeriums zufolge ist die Rate der Verurteilten in der männlichen schwarzen Bevölkerung sechs Mal höher als bei den Weißen. Wenn sich dieser Trend fortsetze, sagt Gotsch, "dann wird jeder dritte der heute geborenen Afro-Amerikaner irgendwann im Gefängnis landen".