Türkische Regierung ruft Ausnahmezustand aus und will Menschenrechtskonvention teilweise aussetzen.
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Istanbul. Ein Meer aus roten türkischen Fahnen weht auf dem Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwochabend kurz vor Mitternacht auf zwei riesigen Bildschirmen erscheint. "Wir werden den Ausnahmezustand für drei Monate einführen", sagt der Staatschef mit dröhnender Stimme.
Dann spricht er über die Anhänger des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen, den er für den Putschversuch am vergangenen Freitag verantwortlich macht: "Egal wohin sie fliehen, wir sind ihnen auf den Fersen." Die etwa 30.000 Menschen auf dem weitläufigen Platz jubeln, fallen sich in die Arme, skandieren "Allahu akbar!", und immer wieder: "Recep Tayyip Erdogan!" Grölende junge Männer marschieren durch die angrenzende Fußgängerzone Istiklal Caddesi und recken die Hände zum Wolfsgruß der faschistischen "grauen Wölfe".
Zum ersten Mal seit dem Putsch von 1980 gilt wieder ein Ausnahmezustand im ganzen Land und nicht nur in den unruhigen Kurdengebieten Südostanatoliens. Das Parlament kann seine dreimonatige Dauer verändern oder aufheben, womit angesichts der klaren Mehrheit von Erdogans AKP in der Nationalversammlung jedoch nicht zu rechnen ist. Während des Ausnahmezustands kann der Staatspräsident weitgehend per Dekret regieren. Grundrechte wie Versammlungs- oder Pressefreiheit können ausgesetzt oder eingeschränkt werden. Am Donnerstag gab der der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtumulus bereits bekannt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention vorübergehend suspendiert werden soll.
Erinnerungen an 1980
Doch Erdogan sagt, es werde "definitiv keine Einschränkungen geben. Dafür garantieren wir". Ziel sei es vielmehr, Demokratie und Rechtsstaat wiederherzustellen. Auch andere türkische Spitzenpolitiker versuchen zu beruhigen: Vize-Premier Mehmet Simsek teilt via Twitter mit, es handle sich nicht um die Ausrufung des Kriegsrechts wie unter der Militärdiktatur 1980. Das Leben gewöhnlicher Menschen werde nicht beeinträchtigt. "Dank des Ausnahmezustands wird die zivile Autorität gestärkt und Freiheiten nicht eingeschränkt", versichert auch das Erdogan-treue Blatt "Türkiy". Die türkische Lira stürzt gleichwohl weiter ab.
Indes vergisst kein Regierungspolitiker darauf hinzuweisen, dass auch in Frankreich seit neun Monaten der Ausnahmezustand gilt und nun erneut verlängert wurde. Erdogan rechtfertigt die gravierende Maßnahme ebenfalls mit dem Krieg gegen den Terror - gegen die Gülen-Bewegung, allerdings ohne für deren Täterschaft stichhaltige Beweise vorgelegt zu haben. In einem Interview mit dem Fernsehsender Al Jazeera behauptete der Präsident sogar, dass andere Länder in den Putschversuch verwickelt gewesen sein könnten. Es gebe "ein höheres Gehirn" hinter der Gülen-Bewegung - ein Wort, mit dem er normalerweise dunkle Kräfte in Washington bezeichnet.
Während Erdogan-Anhänger die Suspendierung der Demokratie feiern, sind viele liberale, säkulare Türken und Angehörige von Minderheiten wegen der Massenentlassungen, Festnahmen und Ausreiseverbote für türkische Akademiker und Beamte zutiefst beunruhigt. Viele Ältere erinnern sich mit Schrecken an die Massenverhaftungen, Folter und brutale Zerschlagung von Gewerkschaften, Parteien und Verbänden nach 1980. "Alle meine Freunde haben Angst", sagt eine 35-jährige Alevitin, "sie fragen sich: Wird es Pogrome geben? Müssen wir das Land verlassen?"
Sie ist besorgt wegen der Nachrichten, die in den sozialen Netzwerken kursieren - etwa Videos, in denen Putschisten wie in einem stalinistischen Schauprozess den Kameras vorgeführt werden. "Schon jetzt sehen wir, dass die Verhafteten offensichtlich misshandelt werden", sagt Emma Sinclair-Webb von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Istanbul. "Das verstößt gegen die türkischen Gesetze und ist absolut inakzeptabel." Der für die Johns-Hopkins-Universität in den USA tätige Istanbuler Türkei-Experte Gareth Jenkins bescheinigt der Regierung ein Kommunikationsdesaster: "Die Leute geraten in Panik, weil sie nicht wissen, was sie jetzt erwartet."
Opposition alarmiert
Jenkins erwartet zwar keine Exzesse wie nach dem Putsch von 1980, als Hunderttausende inhaftiert und viele gefoltert wurden. Er glaubt aber, dass sich Erdogan mit dem Ausnahmezustand in eine selbstgestellte Falle manövriere. Er könne jetzt zwar die Gülenisten und andere Gegner loswerden, ohne dass sie sich vor Gericht wehren könnten. "Aber ab jetzt ist er allein für alles verantwortlich, was im Land geschieht, er kann Fehler auf niemand anderen mehr abwälzen."
Auch die linke Opposition im Parlament ist alarmiert. Der CHP-Vizefraktionsvorsitzende Özgür Özel bezeichnete die Ausrufung des Ausnahmezustands als "Illoyalität gegenüber dem Parlament, Undankbarkeit und zivilen Staatsstreich". Einen "zivilen Gegenputsch" sieht auch Ziya Pir, Parlamentsabgeordneter der prokurdischen Linkspartei HDP: "Das Volk hat den Putsch abgewehrt, aber jetzt ist es, als habe ein erfolgreicher Putsch stattgefunden. Unter dem Deckmantel der Säuberungsaktion werden nicht nur Gülenisten, sondern auch Aleviten, Kurden und Kemalisten entlassen, verhaftet und verfolgt."
Da sich das Parlament ab kommender Woche bis 1. Oktober in die Ferien verabschiede, habe Erdogan jetzt freie Hand für seinen Staatsstreich, sagt Pir. Der Kurden-Politiker glaubt, Erdogan werde den Ausnahmezustand immer weiter verlängern: "So wie bis 2002 in den Kurdengebieten. Die Macht wird von Polizei, Militär, Richtern und Staatsanwälten übernommen, gewählte Stadtverwaltungen werden abgesetzt, Presse- und Meinungsfreiheit weiter eingeschränkt. Die Demokratie wird suspendiert. Für die Kurden ist das nichts Besonderes, aber im Westen der Türkei muss man sich jetzt erstmals seit 1980 damit auseinandersetzen."