Die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger berichtet über ihr Leben in den verschiedenen Regionen ihrer Heimat, erklärt das Schweizer Schwanken zwischen Beharrung und Offenheit und bezweifelt, dass es wirklich eine Schweizer Literatur gibt.
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"Wiener Zeitung": Gertrud Leutenegger, in Ihren jungen Jahren waren Sie mal Kustodin im Nietzsche-Haus in Sils Maria, in dem Sie auch wohnten. Später haben Sie lange in einem kleinen Tessiner Dorf gelebt, davor in der französischen Schweiz. Wo gehören Sie hin?
Das kann ich nicht beantworten! In der Erinnerung überlagern sich die Landschaften. Von jeder bleibt einem etwas, in jeder kann ich Heimatgefühle haben. Für mich ist die Schweiz nie eng gewesen.
Weil Sie sich selbst so viel in ihr bewegt haben?
Ich meine den geistigen Raum Schweiz. Wir sind ja ein Passland, das immer nach verschiedensten Seiten ausstrahlt; das sowohl etwas Beharrendes hat als auch diese große Offenheit. Es ist nicht schlecht, wenn beide Kräfte lebendig sind.
Erst einen Monat liegt die nationale Abstimmung zurück, in der die Stimmbürger über die sogenannte "Masseneinwanderung" abgestimmt, und sich die konservativen Kräfte mit einer hauchdünnen Mehrheit durchgesetzt haben. Hat momentan in der Schweiz die beharrende Kraft die Oberhand?
Ja, aber eben nur hauchdünn. Es passiert immer mal wieder, dass dies Beharrende sich durchsetzt. Die Gegensätze zwischen der Deutschschweiz und der Romandie sind da sehr groß. Diese Abstimmung hat gezeigt, wie riskant es ist, komplexe Probleme unter ein populistisches Motto zu setzen. Die realen Probleme - Zerstörung unserer Landschaft, Grenzen des Wachstums, knapper Wohnraum, Stellenpolitik - müssen wir innerhalb der Schweiz austragen. In meinen Augen hat diese Abstimmung nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun. Wir sind nicht fremdenfeindlicher als jedes andere Land in Europa.
Zurück zu Ihren eigenen Wegen! Was war der Auslöser dafür, dass Sie in verschiedenen Regionen der Schweiz gelebt haben?
Nach vier Jahren im französischsprachigen Wallis wollte ich nach Genf gehen, das war unbezahlbar teuer. Und so kam ich in die italienische Schweiz, ins Mendrisiotto, da blieb ich dann 20 Jahre.
Ein Teil von Ihnen ist nomadisch . . .
Ja, rückblickend erscheint es so. Es tut gut, und erscheint mir auch wichtig, immer mal wieder Gast zu sein im eigenen Land.
Jetzt leben Sie in Zürich. Haben Sie sich ein Leben mit vielen Ortswechseln gewünscht?
Meine Kindheit verbrachte ich in Schwyz, nahe dem Vierwaldstättersee, aber kaum war ich mit der Schule fertig, fing das Wanderleben an. Ich wollte nach Florenz, Italienisch lernen. Ich bin zwar in einer politisch wachen Familie aufgewachsen, aber erst dort begann eine wirkliche Politisierung. Die Klassenunterschiede waren in Italien viel ausgeprägter.
Haben Sie damals schon geschrieben?
Das Schreiben ging immer nebenher, fast wie im Traum. Gleichzeitig aber habe ich fast verzweifelt einen "richtigen" Beruf gesucht. Ich hatte mal die Idee, Bäuerin und Pianistin zu werden! Aber mein Vater starb, als ich gerade 18 war; ich arbeitete als Kindergärtnerin, und hörte an der Uni in Zürich Seminare zu Literatur und Philosophie. Dann schloss ich eine Regieausbildung in Zürich ab, war Assistentin bei Jürgen Flimm in Hamburg - und erst dann kam der große Scheideweg.
Was entschied sich?
Ich habe mich für den Weg der Schriftstellerin und gegen das Theater entschieden. Meine ersten Bücher, "Vorabend", "Ninive", waren schon da, und ich merkte, dass das Theater mich auffressen würde: Es fordert die ganze Existenz, wie das Schreiben auch. Ich wollte die Existenz ins Schreiben werfen.
Was war ausschlaggebend für diese Entscheidung?
Die Sprache selbst war die mächtigste Kraft. Als ob mich die Sprache an der Hand genommen hätte. Trotzdem, das mit 30 zu entscheiden, war schon ein Wagnis. Dass ich dann in so abgelegenen Dörfern gelebt habe, hing direkt damit zusammen: Dort konnte ich diese absolute Hingabe ans Schreiben leben - zugleich lebte ich einfach, heizte den Ölofen, verbrauchte nicht viel Geld.
Ihr aktuelles Buch spielt in London, wo sie 2010 ein halbes Jahr verbracht haben - dem völligen Gegensatz zu den Dörfern. . .
Ich liebe Extreme! In meinen Dörfern habe ich mich immer aufgehoben gefühlt; man war dort Teil einer Schicksalsgemeinschaft. Aber auch in einer großen Stadt kann ich mich wohl fühlen wie ein Fisch im Wasser. Das ging mir auch in Rom und Tokyo so. Und seit 2000 lebe ich wieder in Zürich. Es ist ja nicht immer nur Wahl, oft sind es auch Umstände, die einen an bestimmte Orte führen. Jetzt, für diese Zeit, ist Zürich der Ort, an den ich hingehöre.
Heimat ist etwas Komplexes?
Ja - wenn ich von Zürich über das Hochmoor der Altmatt nach Schwyz fahre, wo ich aufgewachsen bin, habe ich ein ganz starkes Heimatgefühl. Ich hänge sehr an bestimmten Landschaften.
Wie gehen Sie an einen neuen Ort wie London zum Beispiel?
Ich finde es schön, hinzugehen mit dem Gefühl, als würde man für immer dort bleiben. Sich auszusetzen, keinen Blick zurückzuwerfen. Das ist, als ob man keine Identität hätte; als ob diese sich neu an diesem neuen Ort zusammensetzt. Das ist ähnlich wie beim Schreiben: nicht, dass ich nach Identität suchen würde. Eher ist es so, dass man erst dort, wo man die ganze Identität aufgibt, anfängt. Ohne Namen, ohne Land, fängt man an zu schreiben.
Heißt das, dass Sie ohne konkretes Schreibprojekt nach London gegangen sind?
Ich habe keine Projekte. Höchstens sind da initiale Szenen. Auch dies Mal war alles noch sehr vage. Es hatte mit Bäumen, mit diesem Waldzimmer aus meiner Kindheit zu tun. Daher kommt übrigens auch der Titel: "Panischer Frühling" - von Pan.
Da haben Sie dann ja eine Doppelspur gelegt! Das Buch beginnt im Zeichen der Aschewolke über Island, die den Flugverkehr lahmlegt, so ist es leicht, das Wort "panisch" nur in seiner ersten Bedeutung zu lesen! Dann durchlebt und durchwandert die Ich-Erzählerin diesen Frühling in London, hat viele, meist flüchtige Begegnungen; ist wie ein großes Auge, das vieles sieht und oft auch nach innen schaut.
Dieser Frühling 2010 war in London überwältigend schön. Mich hat ständig die Nomadenlust hinausgetrieben. Im Zimmer habe ich es gar nicht ausgehalten. Das Buch selbst habe ich dann komplett in der Schweiz geschrieben.
Das heißt, Sie brauchen keine direkte Verbindung, keine zeitliche und räumliche Nähe mehr zu den Erlebnissen, wenn Sie sie in Sprache bringen?
Es geht ja weder darum, etwas abzurufen, noch etwas abzubilden. Vielmehr braucht es Zeit, damit das Erlebte wie durch Gesteinsschichten hindurch kann; damit es eine metaphysische Erfahrung wird. Mit dem Schreiben begebe ich mich an einen anderen Ort, jenseits der Dinge, oder ins Innere der Dinge. Mich interessiert es nicht, London als Phänomen zu schildern. Es ist eher eine Ansicht der Stadt von unten herauf. Ich versuche, die Erzählung auf wenige Elemente zu reduzieren, an denen dann eine größere Dimension sichtbar wird.
Das heißt, Sie haben gar keine Notizen mitgebracht, an denen Sie sich hätten festhalten können?
Sehr wenige! Es ist im Gegenteil so, dass ich Angst vor diesen Festlegungen habe. Vielmehr will ich die Erfahrung vollständig durch diese inneren Gesteinsschichten hindurchlassen.
Was genau meinen Sie mit diesen Gesteinsschichten?
Die direkte Unmittelbarkeit hat im Erzählen keine Kraft. Die Erfahrungen müssen durch die Unendlichkeit, oder vielleicht eher Endlichkeit, hindurch - erst dann entsteht eine Frische; eine Art zweite Unmittelbarkeit.
Als Sie von London zurückkamen, - wussten Sie dann noch nicht, welche Hauptperson, welche Themen Ihr Buch haben würde?
Nein, überhaupt nicht! Es braucht viel Geduld - und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Da war doch dieser Mann, der die Obdachlosenzeitung verkaufte, und mit dem ich so intensive Gespräche über meine und seine Kindheit geführt hatte. In meinem Buch bauen diese beiden dann gemeinsam eine Art Doppelhaus der Kindheit.
Spielen Kindheitserinnerungen eine große Rolle für Ihr Schreiben?
Wahrscheinlich eine sehr große. Aus den Regeln des No-Theaters in Japan erinnere ich mich an den Satz: Man vergesse in allen Perioden das Anfangsherz nicht. Dort ist mein Nährboden. Es hat mich nie gelockt, einen Kindheitsroman zu schreiben - eher schaut man wohl in den Rundgängen des Erinnerns immer wieder von einem anderen Ort, unter anderer Beleuchtung auf dieselben Szenen. Sie dauern ein Leben lang, verändern sich. Wie von Blitzlichtern erhellt, dann tauchen sie wieder ins Dunkel zurück.
"Panischer Frühling" ist ganz konkret in der Zeit verankert. Es spielt 2010, im Frühling des Vulkanausbruchs; dann, in der Begegnung mit dem Zeitungsverkäufer geht die Ich-Erzählerin zurück in seine Kindheit in Cornwall, auch in die Kindheit der Großmutter während des Krieges, als Londoner Kinder nach Cornwall evakuiert wurden. Spielt Zeitzeugenschaft für Ihr Schreiben eine Rolle?
Es gibt kein l’art pour l’art, glaube ich, wir sind immer von den Schatten unserer Zeit berührt; jedes Gedicht ist davon berührt. Ich selbst neige oft dazu, Konflikte hinter Metaphern zu verbergen. Aber für dies Buch war auch die Dimension nüchternen Feststellens wichtig.
Als Sie heimgekommen sind nach diesem halben Jahr - hatten Sie einen anderen Blick auf die Schweiz?
Nein, ich bin zuviel herumgereist, als dass sich dieser Schock noch einstellen würde.
Wie blicken Sie auf die Schweizer Literatur?
Es gibt keine Schweizer Literatur! Es gibt Schweizer Autoren aus verschiedenen Sprachgebieten unseres Landes. Bestimmt habe ich Catherine Colomb mit noch größerer Faszination gelesen, weil ich in der Romandie lebte. Ebenso entstand in der italienischen Schweiz zur Dichtung eines Giovanni Orelli oder Fabio Pusterla eine intensivere Bezogenheit. Meine Fixsterne der Literatur sind nicht unbedingt schweizerisch. Gertrud Kolmar, Emily Dickinson, Arthur Rimbaud, Andrzej Stasiuk.
Gibt es nichts, was die Schweizer Literatur kennzeichnet - Ihrer Meinung nach?
Wir sind diese Vielfalt - das macht es schwierig, uns zu fassen! Eine Vielsprachenlandschaft. Im einzelnen Werk wird die Schweiz in jenem speziellen Milieu, in der Tradition, aus der das Werk kommt, erkennbar, und so soll das ja sein! Auch wenn ich Hochdeutsch schreibe, liegt mir viel an Worten, die kaum übersetzbar, nicht ersetzbar sind.
Sie meinen die Älplerchilbi?
Und den Fünfliber!
Gertrud Leutenegger, was brauchen Sie zum Schreiben?
Stille. Kein Kaffeehaus. Ein Schreibatelier wäre schön. Darin nichts als Papier und Bleistifte, - vielleicht unsere Katze, die ist immer froh, wenn ich bei ihr bin. Sonst niemanden im Haus. Das Telefon stecke ich aus. Einen Computer habe ich nicht; ich schreibe zuerst mit der Hand, dann mit der Schreibmaschine. Ich schreibe das Buch von vorn nach hinten, das ist wie ein Losgehen und Unterwegssein.
Bernadette Conrad, geboren 1963, lebt als Journalistin in Konstanz. Ihre Schwerpunkte sind Literatur- und Theaterkritik, Reisereportagen, Schriftstellergespräche.
Zur Person
Gertrud Leutenegger ist 1948 in Schwyz geboren und aufgewachsen. Nach der Schule lebte sie in Italien, England, Berlin. Sie absolvierte ein Regiestudium in Zürich und ging als Assistentin von Jürgen Flimm nach Hamburg. Als sie sich 1979 ganz für das Schreiben entschied, waren ihren ersten beiden Romane schon erschienen: "Vorabend" (1975) und "Ninive" (1977). Ende der 70er Jahre lebte sie vier Jahre in der französischen Schweiz, dann knapp 20 Jahre in der italienischen Schweiz, wo 1989 ihre Tochter geboren wurde und aufwuchs.
Seit 2000 lebt die Autorin wieder in Zürich. Von ihr sind 15 Bücher erschienen, neben Romanen auch Kurzprosa, Essays und dramatische Poeme. Ihr neuester Roman "Panischer Frühling" kam soeben bei Suhrkamp in Berlin heraus.