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"Wir sind jetzt im Krieg mit euch"

Von Von Christoph Driessen / WZ Online

Europaarchiv

Immer wenn in Bagdad eine besonders große Bombe explodiert, bekommt Hadi Ali einen besorgten Anruf von seiner Schwester aus London; nie hätte er gedacht, dass es einmal umgekehrt sein könnte. Doch am vergangenen Donnerstag war er es, der zum Telefon griff, um zu fragen, ob sie okay sei. Das Bedrückende für viele Moslems in Großbritannien ist: Sie fühlen sich nicht nur wie alle anderen auch als potenzielle Terroropfer - sie müssen damit leben, dem Täterkreis zugerechnet zu werden.


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In den ersten Stunden nach den Anschlägen in London gingen beim Muslim Council of Britain, dem Dachverband der 1,6 Millionen britischen Moslems, 30.000 Hassbekundungen ein. Der Tenor vieler Botschaften war: "Wir sind jetzt im Krieg mit euch Moslems." Allein am Donnerstag und Freitag wurden der Polizei landesweit 70 Vorfälle von Beschimpfungen bis hin zu gewalttätigen Angriffen gemeldet. Am Samstag früh wurde in dem englischen Ort Birkenhead ein Brandanschlag auf eine Moschee verübt.

Der Platz neben arabisch aussehenden Leuten in der U-Bahn bleibt jetzt oft frei. Ein Londoner Taxifahrer erzählt: "Am Tag der Anschläge hatte ich einen Araber hier drin, zwar schick im Anzug und so, aber als der kurz ausstieg, um Geld zu holen, und seinen Koffer bei mir im Wagen stehen ließ, hab ich ihm doch zugerufen: "He, den nehmen Sie aber einmal schön mit raus!" Hätte ja auch eine Bombe drin sein können, nicht wahr?"

Die ehemalige Premierministerin Margaret Thatcher und der frühere Erzbischof von Canterbury, George Carey, haben den britischen Moslems nach den Anschlägen vom 11. September vorgeworfen, sich nicht klar genug vom Terror zu distanzieren. "Wo bleiben die Demonstrationen gegen Osama bin Laden?", fragten sie. Wahr ist, dass der Rat der Moslems zwar immer alle Terrorakte verurteilt hat, aber in denselben Erklärungen oft auch auf den Umgang Israels mit den Palästinensern oder den Irak-Krieg verwies. Viele Briten fanden das geschmacklos.

Diesmal allerdings war es anders, die Formulierungen hätten nicht schärfer gewählt sein können: "Wir alle müssen uns vereinen und der Polizei dabei helfen, diese Mörder zu fangen", forderte der Rat schon Stunden nach den Bombenexplosionen in London. Nach einem Bericht des "Independent on Sunday" wollen führende islamische Gelehrte sogar eine Fatwa (ein islamisches Rechtsgutachten) gegen die Terroristen aussprechen und sie damit aus der Glaubensgemeinschaft verstoßen. "Diejenigen, die hinter diesen Gräueltaten stecken, sind nicht nur Feinde der Menschheit", sagt Sir Iqbal Sacrani, der Generalsekretär des Council. "Es sind auch Feinde des Islams und der Moslems."

Und das kann man wörtlich nehmen, wenn man zum Beispiel an Shahara Akther Islam denkt. Wie jede typische 20-Jährige liebte die gebürtige Londonerin Partys, Mode und Einkaufen - aber gleichzeitig betete sie als Tochter moslemischer Einwanderer aus Bangladesch jede Woche in der Moschee. Am Donnerstag früh verabschiedete sie sich von ihrem jüngeren Bruder und stieg in die U-Bahn, um zur Arbeit zu fahren. An ihrem Arbeitsplatz ist sie nie angekommen.

Zehn Prozent der Londoner sind Muslime

Etwa 1,6 Millionen Menschen muslimischen Glaubens leben derzeit in Großbritannien. Das sind knapp drei Prozent der gesamten Bevölkerung des Inselreichs. Die meisten britischen Muslime stammen aus Indien, Pakistan und Bangladesch, aber viele sind auch Nachkommen von Glaubensbrüdern aus anderen ehemaligen britischen Kolonien. Der überwiegende Teil lebt in England, nur etwa 60.000 in Schottland, Wales und Nordirland. In manchen nordenglischen Städten ist der Islam schon die bedeutendste Religion; in London ist etwa jeder zehnte Einwohner ein Muslim.

Die ersten muslimische Gemeinden wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Einwanderern aus dem Jemen gegründet. Als Folge des Commonwealth Immigration Act von 1962, der für die Einreise nach Großbritannien eine berufliche Qualifikation und einen Arbeitsplatz vorschrieb, siedelten sich viele Inder und Pakistaner mit überdurchschnittlichen Berufsqualifikationen in Großbritannien an. Nun zogen auch vermehrt Familienangehörige nach.

Lange Zeit führten die britischen Muslime eine eher unauffällige Existenz. Erst die Affäre um den Roman "Die Satanische Verse" des Schriftstellers Salman Rushdie im Jahre 1989 lenkte die Aufmerksamkeit auf diese Minderheit.

Heute sind die Muslime die insgesamt am wenigsten integrierte und wirtschaftlich am schlechtesten gestellte Minderheit des Landes. Sie leben weitgehend unter sich. Eine Umfrage im Jahr 2002 ergab, dass unter Muslimen die Arbeitslosigkeit zweieinhalb Mal so hoch ist wie unter Nicht-Muslimen. Fast ein Drittel besitzt keine verwertbare Ausbildung.

Eine zunehmende Kluft herrscht offenbar zwischen den Generationen. Während sich ältere Muslime bereit zeigen, stärker als bisher an der britische Gesellschaft Teil zu haben, sind die jüngeren zunehmend an der Bewahrung einer separaten, muslimisch geprägten Identität interessiert. Im Jahr 2004 sagten 41 Prozent der jungen Muslime in einer Umfrage, sie wollten nicht weiter in die Gesellschaft integriert werden. Die stärkere Bedeutung religiöser Traditionen zeigt sich auch daran, dass sich eine zunehmende Zahl der Muslime durch ihre Kleidung bewusst von den anderen Briten absetzt.

Hunderte islamische Extremisten in Italien vermutet

Der italienische Geheimdienst schätzt, dass in Italien zirka 350 islamistische Extremisten leben. Dies berichtete die italienische Tageszeitung "Il Messaggero", die sich auf Quellen des italienischen Innenministeriums bezieht. Die meisten Fundamentalisten leben demnach im Norden des Landes, vor allem in den industriereichen Regionen Piemont und in der Lombardei. Fundamentalistische Zellen befänden sich auch in der Gegend von Neapel.

Laut der Tageszeitung ist vor allem die "Salafistische Gruppe marokkanischer Kämpfer" in Italien aktiv. Die italienische Polizei hat nach den Attentaten in London rund 142 Personen wegen mutmaßlicher terroristischer Aktivitäten festgenommen. 52 illegal in Italien lebende Immigranten wurden ausgewiesen.

Dabei seien rund um Mailand unter anderem Bahnhöfe, U-Bahn-Stationen und andere als mögliche Terrorziele eingestufte Objektive kontrolliert worden, hieß es. Es seien auch eineinhalb Kilogramm Sprengstoff sichergestellt worden, die noch näher untersucht werden sollten.