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"Wir sind keine Black Box"

Von Thomas Seifert

Wirtschaft

Mythen und Halbwahrheiten würden sich um Rating-Agenturen ranken, meint S&P-Geschäftsführer Hinrichs.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung": Die Rating-Agenturen standen nach der Lehman-Pleite 2008 in der Kritik. Was haben Sie unternommen, um das Vertrauen wiederzugewinnen?

Torsten Hinrichs: Wir haben viele Maßnahmen ergriffen, um das Vertrauen in Ratings wiederherzustellen und mehr Transparenz zu schaffen, nicht nur über das, was wir tun, sondern auch darüber, was Ratings leisten können und was nicht. Vielen war nicht klar, dass es bei Ratings um Wahrscheinlichkeiten geht, sie sind ja ein Blick in die Zukunft, und daher kann es keine absolute Sicherheit geben. Wir haben natürlich auch unsere analytischen Prozesse auf den Prüfstand gestellt und weitere Maßnahmen getroffen, um die möglichen Interessenkonflikte in unserem Geschäftsmodell zu adressieren. Bis zum Beginn der US-Finanzkrise hatte die breite Öffentlichkeit kaum etwas von Ratings gehört. Gut, wir waren bei Spezialisten im Markt bekannt. Nach der US-Subprime-Krise und der Euro-Krise glaubt jetzt fast jeder, uns zu kennen. Wobei "kennen" nicht der richtige Ausdruck ist: Jeder hat nur eine ungefähre Vorstellung, und gerade beim Thema Länderrating kommt eine gewisse Emotionalität hinzu - verständlicherweise. Aber was wir genau tun und wie wir es tun oder wozu unsere Arbeit gut ist - darüber ist vielen durchaus interessierten Menschen weiterhin wenig bekannt. Es hat sich in den Köpfen vieler Menschen eine Mixtur aus Halbwahrheiten und Mythen festgesetzt. Dieses falsche Unternehmensbild wollen wir gerne korrigieren.

Gut, dann korrigieren Sie einmal...

Ratings sind der einzige global einheitliche Maßstab für Kreditwürdigkeit, die Symbolik der Ratings wird international genutzt und verstanden. Sie sind sowohl eine unabhängige Meinung Dritter zur Kreditwürdigkeit von Schuldnern, und sie sind ein nützliches Instrument zur Unternehmenssteuerung. Indem unsere Ratings Unternehmen oder Banken den Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten ermöglichen, leisten wir einen Beitrag zu Investitionen, Wachstum und Arbeitsplatzsicherung.

Wir testen den Zusammenhang zwischen Ratings und tatsächlich beobachteten Ausfallraten seit mehr als 30 Jahren und können mit Ausnahme der Ratings zum US-Hypothekenmarkt in der letzten Krise mit Fug und Recht behaupten, dass die Ergebnisse immer hervorragend waren. Unser Maßstab dabei ist, dass Emittenten mit höheren Ratings deutlich seltener und später ausfallen als niedriger geratete Schuldner. Was mich im Moment aber ganz besonders bewegt: Wie können wir einer breiteren interessierten Öffentlichkeit vermitteln, dass wir seit mehr als 30 Jahren in Europa sehr breit aufgestellt sind und den europäischen Markt sehr gut kennen? Wir kombinieren die erforderliche globale Perspektive mit der lokalen Erfahrung von mehr als 500 Analysten an sechs Standorten in Europa. Tatsache ist auch: Hinter unseren Rating-Entscheidungen steht eine nachvollziehbare, veröffentlichte Methodik. Wir sind keine Black Box.

Warum hat Standard & Poor’s verschiedene europäische Länder in ihren Ratings herabgestuft, die USA aber lange Zeit nicht?

Nun, wir haben als bisher einzige Ratingagentur die Bonität der Vereinigten Staaten heruntergestuft und gesagt, dass ein AAA für die USA im Vergleich zu anderen AAA-gerateten Staaten nicht mehr angemessen ist. Das hat für großen Wirbel gesorgt.

Warum haben die USA noch ein so hohes Rating?

Unsere Länderratings basieren auf fünf analytischen Themenbereichen, deren Ergebnisse letztendlich zu einem Rating verdichtet werden. Die in der Öffentlichkeit meist diskutierten Staatsschulden sind natürlich Bestandteil der Analyse, aber eben nicht der einzige oder gar der dominierende. Neben der Handlungsfähigkeit der politischen Institutionen spielt unter anderem auch die monetäre Hoheit eine Rolle. Ein wichtiger Faktor ist also, dass die Fed im Grunde so viel Geld drucken kann, wie sie will. Solange der US-Dollar die Reservewährung der Welt ist, wird es immer genug Abnehmer für die frischen Dollars geben. Und solange es Abnehmer gibt, bleibt der Wert der Währung erhalten. Diese Flexibilität haben Staaten in einer Währungsgemeinschaft naturgemäß nicht.

Leiden Sie immer noch unter dem, was 2008 passiert ist?

Sie meinen die Herabstufungen am amerikanischen Markt für Hypothekenpapiere? Darüber sind wir bis heute nicht glücklich. Die Anzahl der Herabstufungen, die damals notwendig waren und die Geschwindigkeit, mit der diese Herabstufungen passiert sind, waren absolut nicht das, was wir uns von unserer Rating-Performance erwartet haben. Wir haben an mehreren Stellschrauben gedreht und insbesondere unsere Methoden und Modelle in diesem Bereich gründlich überarbeitet. Zweitens und gleich wichtig: Es hat zwar viele Herabstufungen geben, aber die Verluste am Markt hat es gegeben, weil durch das Mark-to-market-Prinzip ein Verkaufsdruck entstanden ist. Die wirklich beobachteten Zahlungsausfälle liegen deutlich niedriger, bei etwa 16 oder 17 Prozent.

Führen wir uns einmal vor Augen, wie Ratings für Verbriefungen funktionieren: Ein Rating beschreibt die zukünftig erwartete Zahlungsfähigkeit. Bei einem mit Immobilienkrediten besicherten Wertpapier sorgen also die Zins-und Tilgungszahlungen dieser Kredite für die erforderlichen Cashflows zur Bedienung der Zahlungsverpflichtungen dieses Wertpapiers. Als Ratingagentur müssen wir also Annahmen darüber treffen, wie sicher diese Cashflows sind. Da fließen unter anderem Annahmen über die Korrelation einzelner Teilsegmente von Immobilienmärkten ein, Annahmen über die Beschäftigungsentwicklung unter den Hypothekenschuldnern und damit das Arbeitsmarktumfeld, die Preisentwicklung auf dem Immobilienmarkt und viele andere mehr. Diese Annahmen treffen wir auf der Grundlage von historischen Erfahrungen - die bis 2005 stets gepasst haben. Wie viele andere wurden wir dann auf dem falschen Fuß erwischt, als sich die Landschaft in den USA völlig gedreht hat.

Was ist da zum Beispiel passiert?

Die Immobilienpreis-Entwicklung zwischen New York, Kalifornien und Florida korrelierte früher nur locker, doch in der Krise gab es da plötzlich eine viel stärkere Korrelation. Die Banken, die diese Kredite ausgereicht haben, haben offenbar immer weniger Wert auf eine eigene, ordentliche Bonitätsprüfung der einzelnen Schuldner gelegt.

In dem Komplex eines stark geänderten Verhaltens der Darlehensnehmer, die sich mit unerwarteten Schwierigkeiten in einem einsetzenden Abschwung konfrontiert sahen, ist dann eine Situation entstanden, in der wir ungewöhnlich oft und heftige Herabstufungen vornehmen mussten. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass unsere Annahmen nicht mehr gepasst haben.

Und die Konsequenzen?

Wir haben unsere Lehren gezogen. Wir haben etwa einen Methoden-TÜV eingeführt, wo wir unsere Modelle regelmäßig darauf abklopfen, ob sie auch das liefern, was die Analysten von ihnen erwarten. Wir hinterfragen unsere makroökonomischen Annahmen stärker und haben unsere Ratingkriterien mehr auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit ausgelegt.

Waren die Hypothekenpapiere zu komplex? Muss Komplexität aus dem Markt?

Die hochkomplexen Papiere will seit der Subprime-Krise niemand mehr haben, die sind verschwunden. Komplexität per se ist aber nicht das Problem, es gibt durchaus Investoren, die in der Lage sind, komplexe Strukturen zu analysieren.

Was ist zur Kritik zu sagen, dass nur 28 Prozent der Aktivität der Finanzdienstleistungsindustrie tatsächlich auf die Realwirtschaft zurückgehen?

Diese Zahl erscheint mir zu niedrig. Es mag sein, dass etwa Nahrungsmittelspekulationen nicht notwendigerweise gesellschaftlichen Nutzen bringen. Aber lassen Sie uns nicht den gesamten Rohstoffhandel verteufeln. Und ich halte es auch für durchaus vernünftig, wenn Banken Eigenpositionen etwa bei Treibstoffen halten. Das hat zwar auf den ersten Blick nichts mit dem Bankgeschäft per se zu tun, ist aber notwendig, damit die Fluggesellschaften ihren Spritbedarf gegen Preisschwankungen absichern können. Banken sind eben diejenigen, die solche Positionen hedgen, die Gegenpositionen aufbauen können, um ihre Kunden so gegen das Preisänderungsrisiko abzusichern. Nur Banken haben ausreichend Tiefe im Markt, um das zu schaffen.

Wie erklären Sie aber dem Mann von der Straße, dass die Deutsche Bank tonnenweise Kerosin für irgendwann im November kauft?

Das macht die Deutsche Bank - oder auch andere Geschäftsbanken - hauptsächlich, um ein Geschäft für ihre Kunden aus der Luftfahrtindustrie zu tätigen oder eines abzusichern. Und dass z. B. die Lufthansa Kerosin und auch Planungssicherheit braucht, ist sicherlich nachvollziehbar. In so einer Debatte sind alle gefragt, die Polemik ein wenig zurückzunehmen, und da ist es ganz gut, wenn alle versuchen, für ein wenig Aufklärung zu sorgen.

Vor der Krise hat in den USA eine völlig entfesselte Finanzdienstleistungsindustrie 40 Prozent der gesamten Unternehmensgewinne erwirtschaftet. Jemand, der am Fließband arbeitet, versteht da die Welt nicht mehr. Ist die Finanzdienstleistungsbranche nicht abhängig von den Früchten der Realwirtschaft? Sind 40 Prozent nicht zu viel?

Ich darf wiederum davor warnen, die Dinge allzu plakativ darzustellen: Zu sagen: "40 Prozent sind zu viel und ich muss hier am Fließband malochen" - das scheint mir dann doch ein wenig zu simpel. Vielleicht ist ein Anteil von 40 Prozent der Unternehmensgewinne für die Finanzdienstleistungsbranche zu viel, vielleicht sind 40 Prozent aber auch okay, wenn dieses Geld dann wieder im Wirtschaftskreislauf produktiv umläuft.

Wenn Sie eine Ethik-Diskussion anstoßen wollen, dann ist das etwas anderes. Der Finanzdienstleistungsbranche einen Spiegel vorzuhalten ist sicherlich notwendig. Ich halte es aber für richtig, einen Spiegel und keinen Zerrspiegel zu verwenden. Denn nur, wenn dieser Spiegel ein richtiges Bild zeigt, kann man die Unreinheiten richtig erkennen.