Die Überzeugung, frei entscheiden zu können, ist der Kern unseres Seins: Der freie Wille unterscheidet den Menschen vom Tier. Doch im Gehirn, dort, wo seit langem der Geist im Körper vermutet wird, ist davon nichts zu finden. Im Gegenteil: Je besser die Forschung die komplexen Prozesse im Gehirn versteht, desto weniger bleibt übrig von der Vorstellung, "ein freier Mensch" zu sein.
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Nach dem gegenwärtigen Stand der Hirnforschung ist klar: Das Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben, ist, überspitzt gesagt, Einbildung. "Neurobiologisch gesehen gibt es keinen Raum für Freiheit", sagt Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt am Main. "Das, was wir als freie Entscheidung erfahren, ist nichts als eine nachträgliche Begründung von Zustandsveränderungen, die ohnehin erfolgt wären."
Sein US-Kollege Michael Gazzangia formuliert es provokanter: "Wir sind die Letzten, die erfahren, was unser Gehirn vorhat." Dass dies so ist, hat eine lange Reihe von Experimenten bewiesen. Der US-Forscher Benjamin Libet hat sogar den zeitlichen Abstand zwischen Handlung und vermeintlichem Willensentschluss gemessen: Das Gefühl, eine Bewegung absichtlich ausgeführt zu haben, sagt er, stellt sich exakt 350 Millisekunden nach der Bewegung ein.
Deprimierend findet Singer diesen Befund indes nicht: "Was ich als nächstes tue, ist die Folge dessen, was ich bin", erklärt er. Das Hirn entscheide nicht willkürlich, sondern auf der Grundlage vorher gesammelter Erfahrungen. "Das Gehirn hat also durchaus die Initiative. Es reagiert nicht nur wie eine Maschine auf Reize von außen."
In diesem individuellen Sein scheint der Schlüssel zu liegen zum letzten großen Rätsel der Hirnforschung: Wo im Gehirn sitzt der Geist? Auf die uralte Frage "Woher kommt das Bewusstsein?" haben die Hirnforscher nicht den Schimmer einer Antwort. Irgendwo zwischen den Hirnwindungen müsse es eine Stelle geben, an der alle Informationen zusammenlaufen, wo verglichen und entschieden wird, meinte man früher. Genau dort vermutete man den Sitz all dessen, was über den Körper hinausgeht.
Heute ist klar: Ein solches Zentrum gibt es nicht, das Hirn arbeitet dezentral. "Naturwissenschaftlich ist es in keiner Weise einzusehen, wie aus dem Zusammenwirken von Atomen Bewusstsein entstehen kann", meint Singer. "Und doch weiß jeder, dass es existiert."
Mit diesem Widerspruch müsse die Menschheit leben lernen, sagt der Forscher: "Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass es zwei sich widersprechende, aber zutreffende Beschreibungsmodelle gibt: auf der einen Seite die subjektiven Befindlichkeiten, auf der anderen der naturwissenschaftliche Befund." Man habe ja auch akzeptiert, dass die Erde eine sich drehende Kugel ist, obwohl man täglich sehe, dass die Sonne auf der einen Seite aufgeht und auf der anderen unter.
Dennoch erschüttern diese Erkenntnisse unser Selbstverständnis im Mark. Verabschiedet man sich vom Konzept des freien Willens, muss die Gesellschaft die Konsequenzen tragen. "Wir müssen den Umgang mit Fehlverhalten, Schuld und Strafe überdenken", mahnt der Hirnforscher Singer.
Natürlich könne man nicht alle Verbrechen damit entschuldigen, dass der Täter sozusagen "nichts dafür kann". Not tue aber ein neuer Blickwinkel, glaubt der Foscher. "Im Vordergrund stehen muss der Schutz der Gesellschaft und der Schutz des Täters vor sich selbst."