Neos als Tabubrecher im Parlament: "Neutralität überholt"
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Wien. Neos-Chef Matthias Strolz hebt seine Arme, bringt seinen Spruch: "Den Kindern die Flügel heben", die Fotografen drücken ab und Strolz ist nicht nur im Parlament gelandet, sondern auf den Titelseiten der Tageszeitungen. Die "Kronen-Zeitung" lobt auf drei Seiten inklusive Cover den "frischen Wind", der von der neuen "Bewegung" ausgeht. Doch wo her weht dieser Wind eigentlich? Von links, von rechts, aus der Mitte? Beim früheren Liberalen Forum, das in den Neos aufging, sahen Beobachter das Pendel gegen Ende mehr nach links als rechts ausschlagen. Liberal wollen sie sein, die Neos, aber weder "neoliberal" noch "liberalala".
Krone der Schöpfung
Die "Wiener Zeitung" versucht, den Nebel zu lichten und nimmt drei unterschiedlich gestrickte Neos-Abgeordnete auf einen politischen Grenzgang mit - durch jenes Österreich, das die "Kronen-Zeitung" über Jahrzehnte widergespiegelt hat. Dieses Österreich teilen sich ÖVP und SPÖ seit Jahrzehnten in einer gemeinsamen Regierung auf, Kammern, Gewerkschaften und Bünde geben über die Parteien den Ton an, die wichtigsten Wähler sind die Pensionisten, die Neutralität ist in Stein gemeißelt, die Gentechnik des Teufels, die EU ein potenzieller Feind, weil sie an unser Wasser will. In diesem Österreich hat im Zweifelsfall der Staat die Letztverantwortung, damit es den Bürgern gut geht, sie gesund sind und halbwegs wohlhabend - und nicht der Einzelne. Schwächelt die Wirtschaft, gibt es neue Tunnels.
Aber genau dieser Krone wollen die Neos der rot-weiß-roten Schöpfung abnehmen. Deswegen, und nicht, weil sie eine liberale Partei nach Vorbild der deutschen FDP sein wollten, haben sie sich gegründet. Deswegen stand das Programm weniger im Vordergrund als der "Kampf gegen den Stillstand" und deswegen ist die politische Verortung der Neos am Ideologie-Raster schwierig.
Mit dem Tabu-Rasenmäher
Tatsächlich ist das Programm sehr eindeutig. Die Neos wollen all jene Tabus brechen, die auch die "Kronen-Zeitung" seit Jahrzehnten schützt. Sie wollen die Neutralität lieber gestern als heute abschaffen, sie wollen bei den Pensionisten reinholzen, damit auch den Jungen noch genügend bleibt, sie haben kein Problem damit, wenn private Firmen die Wasserversorgung übernehmen, solange das Wasser öffentliches Gut bleibt, sie glauben, dass eine Ambulanzgebühr die Spitäler entlasten würde. Die Bundesländer würden sie entweder nach Schweizer Vorbild stärken oder die Landtage abschaffen. Abschaffen würden sie auch die Zwangsmitgliedschaft bei Arbeiterkammer und Wirtschaftskammer. Wie lange jemand täglich arbeitet, sollte jeder selbst entscheiden können, die eigene Amtszeit als Abgeordnete beschränken sie jedoch auf 15 Jahre.
So das Fazit, dass sich beim Rundgang durchs Parlament mit den neuen Abgeordneten Niki Scherak, Gerald Loacker und Beate Meinl-Reisinger ziehen lässt. Aber der Reihe nach.
Bundesräte zählen
Von der Säulenhalle führt eine Abkürzung in den Hauptraum des Parlaments durch den Bundesrat. Die Neos wollen ihn abschaffen. Selbst der Vorarlberger Loacker widerspricht nicht. "Dafür gebe es eine große Mehrheit auch in Vorarlberg." Scherak: "In der jetzigen Form sinnlos. Die Debatten schau ich mir vielleicht im TV an, wenn ich nicht schlafen kann."
Das Einzige, was für Scherak für den aktuellen Bundesrat spricht: die Sessel. Die seien viel bequemer als im Plenarsaal. Meinl-Reisinger ist als stellvertretende Klubchefin die Moderatorin der Runde - mit Betonung auf moderat. "Wir sind nicht absolut. Unsere Positionen sind nicht in Stein gemeißelt."
Keine Fans der Landtage
Scherak geht darauf ein. Er kann sich auch einen starken Bundesrat als echte zweite Kammer vorstellen. Dann bräuchte es aber die neun Landtage nicht mehr. Denn irgendwo müsse doch eine Verwaltungsebene wegfallen, seitdem mit der EU eine neue dazu gekommen ist. "Wir regulieren uns zu Tode", sagt Loacker. Derzeit würden die Länder zum Bund, der die Steuern eintreibt, wie ein Mitarbeiter zum Chef sagen: "Ich habe mein Geld verprasst, ich brauche eine Gehaltserhöhung." Deswegen sollten die Länder entweder selbst Steuern einheben und mit unterschiedlichen Steuersätzen um Bürger und Firmen konkurrieren oder eben ihre Landtage verlieren.
Plötzlich "Berufspolitiker"
Im Plenarsaal angekommen, erinnern sich die drei mit Stolz
an die Angelobung und - wegen der schiefen Sessel - auch mit Schmerz. Über 8000 Euro brutto beträgt das monatliche Schmerzensgeld. Wollen sie Abgeordneten-Gehälter auch radikal kürzen, so wie die Parteienförderung? "Unsere Leute, die aus der Wirtschaft kommen, haben zum Teil vorher mehr verdient. Abgeordnete sollen entsprechend bezahlt werden", sagt Meinl-Reisinger, die beim Einschreiben ins Parlament "Berufspolitiker" angekreuzt hat und sich deswegen noch etwas mulmig fühlt. Auch Scherak trennt von diesem Jobprofil nur noch der Studienabschluss. Loacker hat seinen Job bei der Bank bereits auf Teilzeit umgestellt. Neun Abgeordnete, die 39 parlamentarische Hauptausschüsse besetzen müssen, da bleibt wenig Alternative zur Vollzeit - und zum Berufspolitiker.
Dann fällt den dreien ein, dass sie Berufspolitiker auf Zeit sind, weil die Neos-Statuten höchstens 15 Jahre Politik erlauben. Das finden sie gut, weil es die Partei zwinge, für Nachwuchs zu sorgen. Loacker sagt: "Blockadepolitiker wie Neugebauer würden anders handeln, wenn sie nach 15 Jahren wieder im richtigen Leben stehen müssten." Das richtige Leben da draußen, außerhalb der ehrwürdigen Hallen. Das sehen die Neos durch die Politik nicht mehr richtig abgebildet.
Beispiel Arbeitszeit
"Die täglich erlaubte Höchstarbeitszeit von zehn Stunden könnte man erhöhen", sagt Meinl-Reisinger. "Menschen mit zwei oder drei Jobs haben auch keine Stundenbegrenzung", sagt Loacker. "Den Pflegediensten und Ärzten mutet man das auch zu und nimmt in Kauf, dass es riskant werden kann. Aber ein Bürotiger muss nach zehn Stunden aufhören, auch wenn er dafür am nächsten Tag viel früher heimgehen könnte?" - "Aber natürlich soll niemand ausgebeutet werden", wirft Meinl-Reisinger ein.
Beispiel Gesundheit
Die Neos wollen eine einzige Sozialversicherung für alle, ohne Unterschiede zwischen Bauern, Beamten und Angestellten. So weit, so gewünscht auch von anderen "systemkritischen" Parteien wie FPÖ und Team Stronach. Scherak geht weiter. Er kann sich vorstellen, den Gesundheitsmarkt für private Kassen zu öffnen, die in einen Wettbewerb zur staatlichen Kassa treten. So weit geht das offizielle Programm nicht.
Loacker hält eine Grundversorgung kombiniert mit privaten Modulen für sinnvoll. "Heute machen 75-Jährige noch Sport. Eine Kombination aus staatlich und privat ist sinnvoll." "Aber es braucht eine Grundversorgung auf hohem Niveau", wirft Meinl-Reisinger wieder ein. Wie stehen die Verfechter der Eigenverantwortung zu Selbstbehalten?
Scherak war enttäuscht, dass in Deutschland die Praxisgebühr scheiterte. "Das war eine gute Möglichkeit, den Leuten vor Augen zu führen, dass jeder Praxisbesuch etwas kostet." Eine Ambulanzgebühr für Österreich? "Derzeit gehen zu viele ins Spital und zu wenige zu den Niedergelassenen. Eine Form der Gebühr wäre sinnvoll." Loacker nickt. Meinl-Reisinger sagt, dass dann die Hausärzte gestärkt gehören.
Beispiel Pensionen
"Da hat uns die Regierung vor der Wahl ins Gesicht gelogen. Für die 20- bis 50-Jährigen schaut es schlecht aus", sagt Meinl-Reisinger. Deswegen wollen die Neos einen "Solidaritätsbeitrag der Generation jetzt". Das heißt: Pensionen über 2500 Euro einfrieren und nicht mehr an die Inflation anpassen plus einen Solidarbeitrag von Pensionen über 5000 Euro. Dass sie in Luxuspensionen wie jene von der Nationalbank vertragsrechtlich gar nicht eingreifen können, wissen sie. In die Populismus-Kiste greifen auch die Neos.
Loacker findet, dass die Regierung Frauen "schneller alt macht", weil sie das Frauenpensionsalter von 60 Jahren nicht sofort anhebt. "Bewirbt sich eine Frau mit 49, kalkuliert der Arbeitgeber schon, dass sie bald wieder aus dem Betrieb ausscheidet. Der Aufwand, sie gut einzuschulen, rentiert sich gar nicht mehr."
Überhaupt sind die Neos bei den Pensionen stärker auf der Seite der Wirtschaft als die SPÖ und ÖVP. Die SPÖ will Firmen bestrafen, die Ältere systematisch in Pension schicken. Nach Ansicht der Neos verleitet das System aus Korridorpension oder Hacklerregelung die Firmen erst dazu, die Leute verstärkt abzubauen.
Wer wie die Neos weniger Staat und mehr Privat will, der kommt an Privatisierungen nicht vorbei. Loacker schreibt auf seiner Homepage: "Was es an Staat nicht braucht, sind staatliche Beteiligungen an Unternehmen wie etwa der OMV." Meinl-Reisinger sagt: "Minderheitsbeteiligungen und Sperrminoritäten sind okay." Und selbst der radikalere Liberale Scherak sagt: "Schienenverkehrsnetze zu privatisieren ist Blödsinn." Dass es WLAN in den ÖBB gibt, dazu habe aber erst die "großartige" Konkurrenz mit der Westbahn geführt. Und warum die Stadt Wien selbst bestattet, könne ihm niemand erklären.
Mittlerweile im "Lokal 2" angelangt, dem noch spärlich eingerichteten Parlamentsbüro der Neos, reden wir über absolute rot-weiß-rote Tabus. Wasser, Neutralität und Gentechnik. Und die Neos brechen sie absichtlich. "Es gibt wahnsinnig viele Tabus in diesem Land", sagt Meinl-Reisinger. Wer nur die Wörter "Wasser" und "Privatisierung" ausspreche, werde mit Angstmache und Kampagnen seitens der Arbeiterkammer und der Gewerkschaften überzogen (und auch seitens der "Kronen-Zeitung", Anm.).
Privater Dammbruch
"Warum soll man nicht überlegen, ob die Wasserversorgung öffentlich ausgeschrieben wird und ein Privater befristet das Recht dazu bekommt?", sagt Loacker. "Wenn ständig die Versorgung und die Kontrolle über das Wassers vermischt werden, ist keine sachliche Debatte möglich."
Beim nächsten großen Tabu, der "immerwährenden" Neutralität haben die Neos kein Interesse an einer sachlichen Debatte. Denn dafür sei es zu spät. "Die ist völlig überholt", sagt Meinl-Reisinger. "Die gibt es schon längst nicht mehr", sagt Scherak. "Alle Juristen sagen, dass die nicht mehr gilt", sagt Loacker. Der Aufgabe der Neutralität habe noch nichts mit einem Nato-Beitritt zu tun.
"Wir haben uns für die EU entschieden und wollen, dass uns andere beistehen, wenn es uns schlecht geht. Und umgekehrt wollen wir uns drücken? Was soll denn das?", sagt Scherak. "Rosinenpicken" nennt es Meinl-Reisinger.
Das Rad der Zeit
Bei der Gentechnik vermisst sie eine sachliche Debatte wie im Deutschen Bundestag. "Ich verstehe die Vorbehalte, aber man kann Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Man muss den Nutzen, Schaden und die ethischen Bedenken sachlich abwägen."
Im Plenarsaal sitzen die Neos neben den Grünen und haben sich bei der Angelobung sichtlich gut verstanden. Bei Punkten wie Gentechnik, Wasser oder Privatisierungen trennen sie aber ideologische Welten. "Die Grünen haben ein Problem mit Leistung und ein Problem mit Leuten, die Geld verdienen", sagt Loacker.
"Eher nicht Keynes"
Das eigene Geld kommt vor dem Steuergeld, das zieht sich durchs Neos-Programm. Deswegen stehen die Neos auch skeptisch der keynesianischen Politik gegenüber, die in der rot-weiß-roten Praxis heißt: Geht es der Wirtschaft schlecht, baut der Staat Straßen und Tunnel und kurbelt die Wirtschaft an.
"Wem hilft’s? Eine Steuersenkung hilft jedem und jeder kann mehr ausgeben", sagt Loacker.
Was die Säulenheiligen der Wirtschaftspolitik betrifft, John-Maynard Keynes, der den Staat in gewissen Zeiten als Wirtschaftslenker sah oder Friedrich August von Hayek, der das Staatsjoch abschütteln wollte, ist die Sache für alle drei klar: "Hayek!", sagt Scherak, "näher bei Hayek", sagt Loacker. "Hayek, oder auf gut Österreichisch, eher nicht Keynes", sagt Meinl-Reisinger.