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"Wir sind nicht mehr so viele, aber wir sind da"

Von WZ-Korrespondentin Karin Bachmann

Europaarchiv

Das jüdische Viertel in Budapest verschwindet schleichend. | Budapest. "Nein", sagt der junge Mann vor dem Haus des Rabbiners an der Dohány-Synagoge in Budapest mit Nachdruck. Ein Problem sei es nicht, Jude in Budapest zu sein. "Wir sind nicht mehr so viele hier, aber wir sind da." Auf die Frage, wo typische Anlaufpunkte seien, wird er schon stiller. "Ja", räumt er ein, "da gibt es nicht mehr allzu viel, jedenfalls nicht außerhalb unserer Gemeinde". Damit ist die Situation auch schon auf den Punkt gebracht: Es ist kein offen zutage tretender Antisemitismus, der den Juden in der ungarischen Hauptstadt zu schaffen macht. Vielmehr geraten ihr kulturelles Erbe und ihre Traditionen zunehmend in Vergessenheit.


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Intellektuelle wie der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész warnen in jüngster Zeit wieder vor einem bedenklichen geistigen Schwenk der Ungarn nach rechts. Die Gründung der rechtsextremen Ungarischen Garde im Vorjahr scheint dies auch nur zu bestätigen. Einer Umfrage des renommierten Gallup-Instituts zufolge sind antisemitische Tendenzen allerdings momentan noch eher zu vernachlässigen und hauptsächlich Roma von Aggressionen gegen Minderheiten betroffen.

All diese Widersprüche passen ins Bild, das das jüdische Viertel in Budapest bietet. Unmittelbar am Weltkulturerbe Andrássy út und unweit des Touristenmagneten Váci utca gelegen, könnte es kaum prominenter platziert sein. Und doch verirren sich außer den Anwohnern nicht allzu viele Menschen hierher. Genau diese Verborgenheit ist es, die sich mit Blick auf die Zukunft mehr und mehr als tückisch erweist. Auch viele nicht-jüdische Bewohner von Budapest wissen nämlich überhaupt nicht um all das Spannende, das sich hinter den vom Staub der Zeit tiefdunkel gewordenen Fassaden verbirgt. Immerhin gibt es hier die einzige Mikwe in Budapest, die sogar bis heute in Betrieb ist. Und nicht zuletzt wuchs genau hier Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, auf.

Und so geht denn auch kein Aufschrei durch die Hauptstadt, wenn das ursprüngliche jüdische Viertel mehr und mehr der Abrissbirne anheim fällt und die alten Häuser modernen Wohngebäuden weichen müssen. Die jüdische Gemeinde selbst versucht zwar, auf sich aufmerksam zu machen, indem sie vergleichsweise offene Einblicke in ihre Traditionen und Geschichte gewährt. Doch erinnert all das an die Bemühungen eines Museumsverwalters, eines Museumsverwalters wider Willen gewissermaßen. Denn das jüdische Viertel wird zunehmend auf seine wichtigsten Bauten reduziert. Vom einstigen Flair hingegen ist kaum noch etwas zu spüren.

Daran wird sich auch nicht viel ändern, wenn die Kazinczy utca im Herzen des Viertels, wie in einem nationalen Rehabilitationsprogramm geplant, tatsächlich mittelfristig in eine Kulturstraße umgewandelt wird. Sicher werden dann mehr Menschen hierher kommen und der eine oder andere wird sich auch für die Geschichte des Viertels interessieren. Sein unfreiwillig musealer Charakter wird aber wohl eher noch weiter zementiert.